Berliner Politik:Das perspektivlose Weiter-so

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Stephan Hebel untersucht die Errungenschaften der großen Koalition. Er stößt dabei auf "Einschläferungsstrategie".

Von Rudolf Walther

Der Publizist und Kolumnist Stephan Hebel legt mit seinem neuen Buch eine fulminante Kritik der großen Koalition vor, die er an dem misst, was sie versprochen und schließlich rigoros verdünnt hat. Besonders schlecht fällt die Bilanz für den kleinen Koalitionspartner aus, die SPD, die vor der Wahl weit mehr versprochen hatte, als dann schließlich im Koalitionsvertrag stand. Die große Koalition arbeitet Hebel zufolge mit einer "Einschläferungsstrategie" und regelrechter "Reformverweigerung" auf der Basis eines perspektivenlosen "Weiter-so".

Die Koalition wird unter Führung der Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht müde, zu beteuern, dass es "uns" und "unserem" Land, "verglichen mit dem Rest der Welt", gut gehe. Das bestreitet Hebel nicht, gibt aber zu bedenken, dass offensichtlich gewordene Defizite der Politik mit Schönfärberei und Untätigkeit nicht abzutragen sind. Der Autor bleibt aber nicht bei der Beschreibung der herrschenden Zustände stehen, sondern vertritt die These, dass die Untätigkeit der Politik nur beendet werden kann, wenn Bürgerinnen und Bürger aus ihrer "Schläfrigkeit" aufwachen und ihre Sache selbst in die Hand nehmen. Bevor jedoch Hebel die Chancen und Perspektiven von "Protest und Widerstand" gegen den "Kapitalismus in seiner heutigen Form" ausleuchtet, präsentiert er eine für die große Koalition wenig schmeichelhafte Abrechnung. Das Beachtlichste daran ist, dass er nicht allein die beiden Koalitionsparteien verantwortlich macht, sondern auch seine eigene Branche: die Medien, die er auf dem Weg sieht, "ihre Rolle als Werkzeug zur Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit" zu verspielen. Er zeigt das an vielen Beispielen, die für die Boulevardisierung mit den Mitteln der Personalisierung und der Skandalisierung stehen.

Stephan Hebel: Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen. Westend Verlag, 2014. 235 Seiten, 16,99 Euro. (Foto: N/A)

Der Publizist klagt über "erstaunlich gleichgerichtete Berichterstattung"

In vielen Berichten herrsche eine "ideologisch erstaunlich gleichgerichtete Berichterstattung", die sich an der "inneren Logik des Politikbetriebs" orientiere und für selbstverständlich hinnehme, was der Kritik bedürfte - etwa die umstandslose Einordnung von sozialer Gerechtigkeit unter die "Innovationshindernisse" oder die Verteidigung militärischer Interventionen mit vagen Vorstellungen von "Schutz" und "Verantwortung". Vielerorts in den Medien stieß der abenteuerlich geschichtslos-naive Satz von Joachim Gauck, "im außenpolitischen Vokabular reimt sich Freihandel auf Frieden und Warenaustausch auf Wohlstand", ebenso wenig auf kritische Resonanz wie die Erklärung eines Verlegers, er sei "der spiritus rector der Redakteure".

Die "Errungenschaften" der großen Koalition untersucht Hebel auf ihre Konsistenz. Vom viel gelobten Mindestlohn sind rund zwei Millionen Zeitungszusteller, Saisonarbeiter, ehemalige Langzeitarbeitslose und Jugendliche ausgeschlossen, und zur einst paritätisch finanzierten, gesetzlichen Krankversicherung tragen Arbeitnehmer seit 2005 jährlich fast zehn Milliarden Euro mehr bei als die Unternehmen.

Ein wenig mehr begriffliche Differenzierung wäre nötig

Hebel wartet für fast jeden Politikbereich mit solchen Fakten auf, die er sprachlich gut präsentiert und gut belegt. Etwas schwieriger wird dies im letzten Kapitel, in dem es um die Zukunft geht: die "Demokratisierung der Demokratie". Der soziale Träger einer Demokratisierung ist nicht in Sicht. Hebel stellt deshalb punktuelle Bewegungen vor - von der Initiative zur Erhaltung des Flughafens Tempelhof über EU-weite Petitionen zum "Recht auf Wasser" bis zu 880 Energiegenossenschaften. Diesen Initiativen ist gemeinsam, dass ihre Mitglieder sich entschlossen haben, ihre Lebensverhältnisse und ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.

Man tut dem Autor nicht Unrecht, wenn man ihn auf einen wunden Punkt hinweist. Mit gutem Grund kritisiert Hebel "großkalibrige Kampfparolen", spricht aber selbst einmal von "Neoliberalen oder Konservativen" - als ob beides austauschbar wäre. Dadurch werden beide Begriffe wenn nicht gerade zu Kampfparolen, so doch zu bloßen Kuhglocken, die großzügig umgehängt werden. Mehr begriffliche Differenzierung wäre nötig: Margaret Thatchers neoliberaler Kampf gegen die Gewerkschaften ist doch nicht dasselbe wie die Umgarnung des DGB durch die Konservative Angela Merkel!

Rudolf Walther ist freier Publizist. Unlängst erschien sein vierter Essayband unter dem Titel: "Aufgreifen, begreifen, angreifen", Münster 2013 (Oktober Verlag).

© SZ vom 23.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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