Berlin:Wutbürger und Wahlkämpfer

Dass Plakate beschmiert werden, ist nichts besonderes. Doch im Berliner Wahlkampf werden die Politiker so hart angegangen wie nie zuvor, sie werden als "Dreckspack" beschimpft und bedroht.

Von JENS SCHNEIDER, Berlin

Es ist einer der guten Tage. Wieder bleibt ein älterer Mann bei Rainer-Michael Lehmann stehen, der seinen Stand schräg gegenüber vom Kaufland in Berlin-Buch aufgebaut hat. Der Mann fragt sogar nach einer Broschüre, von sich aus. "Ich will mal lesen, was ihr so vorhabt", erklärt er dem Sozialdemokraten und möchte noch was fragen zur Entwicklung von Arbeitskräften. Für so was steht Lehmann hier. Wenig später gibt es Gebrüll. Ein Mann mittleren Alters baut sich vor dem Abgeordneten auf und schimpft: "Wer hat uns verraten: Sozialdemokraten!"

Lehmann reagiert besonnen. Er fordert den Mann auf, sich zu mäßigen. Es gibt einen kurzen Wortwechsel über die Flüchtlingspolitik, dann steht der Wahlkreisabgeordnete wieder für sich da. Ab und zu nimmt ihm jemand einen Flyer ab, einige Frauen lächeln ihn an. Viele gehen vorbei, als wäre der Politiker Luft. Aber er hat auch Zuspruch bekommen und diesmal hat keiner "Dreckspack" gerufen. "Ein guter Tag", sagt der 56-Jährige. Einen Tag später muss Rainer-Michael Lehmann das LKA anrufen, nicht zum ersten Mal. Auf einem Wahlplakat hat jemand ein Fadenkreuz auf seine Stirn gezeichnet und "AK 47" dazu geschrieben. Die Drohung mit der Kalaschnikow meldet er der Polizei, auch wenn diese die Urheber ebenso wenig finden dürfte wie jene politischen Vandalen, die Hunderte seiner Wahlplakate zerstörten. Buch im Norden von Pankow gilt seit Langem als ein heikles Pflaster für Wahlkämpfe, auch weil hier eine Gruppe von Rechtsextremisten versucht, Dominanz auszuüben. Es gab schon früher Angriffe auf SPD-Wahlkämpfer, längst schon soll sich hier keiner mehr allein auf den Weg machen. "Aber diesmal ist es eine Spur schlimmer", sagt der SPD-Abgeordnete Lehmann.

Es ist eben nicht nur der Vandalismus. Er wird angegangen wie in keinem Wahlkampf vorher, manchmal im Vorbeigehen. Plötzlich ruft da einer "Dreckspack", ein einfacher Bürger, einmal sei das sogar aus einem Firmenwagen herausgezischt worden, einfach so, das erschien ihm unvorstellbar. "Ich gebe natürlich nicht auf", sagt Lehmann. Es gibt die guten Tage, und es gibt seinen Willen dagegenzuhalten. Aber dieser Berliner Wahlkampf scheint aus dem Lot geraten zu sein, nicht nur in Buch. Dem SPD-Chef und Regierenden Bürgermeister Michael Müller wird von einer außergewöhnlichen Feindseligkeit berichtet. "Wir erleben zunehmende Anfeindungen", sagt er. Wahlkämpfer würden angepöbelt, Plakate heruntergerissen, "selbst Wahlkampfautos wurden bereits angezündet. Dieses Ausmaß an Aggressivität ist erschreckend."

Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin 2016: Wahlplakat der AfD (Alternative für Deutschland) Verunsta

Die Feindseligkeiten scheinen die Regierungsparteien zu treffen, aber auch die AfD beklagt Vandalismus. Plakate sind oft schon Stunden nach dem Aufhängen zerstört.

(Foto: imago/Müller-Stauffenberg)

Auch die CDU, derzeit noch Regierungspartner der SPD im Senat, erlebt in diesem Wahlkampf zuweilen brutal heftige Angriffe. Der Innensenator und Spitzenkandidat Frank Henkel gibt Wahlkampftermine selten öffentlich bekannt, wohl aus Sorge, es könnte zu Übergriffen kommen. In Neukölln wurden Reifen am Wagen eines jungen Christdemokraten zerstochen. Vandalismus gegen Plakate gab es auch früher häufig. "Wirklich besorgniserregend in diesem Wahlkampf ist das Überschreiten genau dieser Vandalismus-Stufe, wie das Zerstechen von Reifen oder das Anzünden von Wahlkampffahrzeugen, wo sogar in Kauf genommen wird, dass man Insassen gefährdet", sagt eine CDU-Sprecherin.

Die Feindseligkeit scheint besonders die Regierungsparteien zu treffen. Bei Grünen und Linken heißt es, es gehe zuweilen hart zu, aber nicht schlimmer als früher. Allerdings falle auf, dass Rechtsextremisten und Rechtspopulisten dreist und offen aufträten wie nie vorher, sagt Linken-Geschäftsführerin Katina Schubert.

Zugleich erlebt die AfD, dass Plakate zuweilen wenige Stunden nach dem Aufhängen restlos entfernt oder zerstört sind. "Der politische Wettstreit in Berlin unterschreitet derzeit leider die Standards westlicher Demokratien", klagt Spitzenkandidat Georg Pazderski. Mindestens ein Dutzend Angriffe hat es nach AfD-Angaben auf Wahlkämpfer an Ständen gegeben, Menschen seien bespuckt und beschimpft worden. "Das ist schlimm, aber es schweißt uns als Schicksalsgemeinschaft zusammen", sagt Pazderski.

Die AfD konzentriert ihren Wahlkampf dabei auf die Außenbezirke jenseits der Berliner Mitte. Der Rückhalt sei besonders in Ostberlin groß, sagt Pazderski. Das Plattenbauviertel Marzahn-Hellersdorf gilt als Hochburg der Partei, die gezielt um die Stimmen von Russlanddeutschen wirbt, die sich dort in großer Zahl angesiedelt haben. Handzettel gibt es auch zweisprachig auf Deutsch und Russisch, inklusive des Versprechens, dass die AfD für ein Ende der Sanktionen gegen Russland stehe.

Lange Zeit galt die Hauptstadt als ein schwieriges Pflaster für die Partei. Noch im Frühsommer gab Berlins Regierungschef Müller die Devise aus, dass Berlin anders und die AfD unter fünf Prozent zu halten sei. Inzwischen steht sie stabil über zehn Prozent. Müller warnt, dass die AfD zum ersten Mal politische Verantwortung bekommen könnte. Am 18. September werden auch die Parlamente in den zwölf Bezirken neu gewählt. Sie haben für sich so viele Einwohner wie eine Großstadt, Marzahn-Hellersdorf zum Beispiel etwa 260 000. Sollte die AfD stark abschneiden, stehen ihr dem Gesetz nach Bezirksratsposten mit beachtlichen Befugnissen zu.

Im Abgeordnetenhaus könnte die Schwächung der großen Parteien nun auch in Berlin dazu führen, dass es neue Bündniskonstellationen geben muss. SPD-Chef Müller hat eine Fortsetzung der Koalition mit der CDU abgelehnt und will mit den Grünen regieren. Doch für ein Zweierbündnis dürfte es ohnehin weder in der einen oder anderen Form reichen - auch nicht für Schwarz-Grün, worauf manche in der CDU spekulierten, bis die Grünen dem eine Absage erteilten. So gilt Rot-Grün-Rot als wahrscheinlichste Option.

Eine Woche steht noch aus. In den letzten Tagen sei die Stimmung an den Ständen etwas besser geworden, heißt es gerade bei den Berliner Regierungsparteien SPD und CDU, und man weiß nicht recht, wie viel dabei Wunschdenken und Selbstbeschwörung ist. Vielleicht sei das Ergebnis aus Mecklenburg-Vorpommern, wo die CDU noch hinter der AfD landete, ein heilsamer Schock, sagt deren Generalsekretär Kai Wegner. Dieser Wahlkampf sei "schon speziell gewesen, härter als je", aber nun werde der Ton anders: "Die Leute kommen an die Stände und sagen, so wollen wir es nun auch nicht."

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