Berlin:"Von da isser jekommen"

Der Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche ist wieder geöffnet, Besucher weinen, Budenbesitzer liegen sich in den Armen. Unterkriegen lassen will man sich nicht.

Von Verena Mayer und Renate Meinhof

Es muss ja weitergehen. Diese Botschaft hört man überall an diesem Morgen auf dem Weihnachtsmarkt des Breitscheidplatzes, mitten im Zentrum des alten West-Berlin. Kalt ist es, Schwärme von Tauben flattern um die Kirchtürme, und normalerweise würde man jetzt Glühwein trinken, aber die Glühweinkocher, Waffelbäcker und Würstchenbrater stehen still und verhalten hinter ihren halb hochgezogenen Rollos, umlagert von Pressemenschen aus aller Welt. Wer macht als Erster auf? Keiner will der Erste sein. Einer der Verkäufer sagt: "Seiense mir nich böse, aber ick hab 'ne Menge zu verarbeiten. Die Toten..." Seine Augen? Zwei überlaufende Seen jetzt. "Von da isser jekommen." Der Mann zeigt in Richtung der Panzersperren, die jetzt, versetzt, dort aufgestellt wurden, wo der Attentäter den Lastwagen zwischen all die Buden gelenkt hat.

Und dann ist da eine junge Frau, klein, schmal und von ihrer Freundin gestützt. Sie weint. Sie legt ein Rosengesteck aufs Pflaster, streicht die Schleife glatt. Darauf steht: "Du bleibst in unseren Herzen". Wer? Die Freundin sagt: "Das ist für den Polen, den Fahrer. Hätte er nicht ins Lenkrad gegriffen, wäre meine Freundin tot."

Als man den U-Bahn-Ausweis und das Handy der Tochter fand, da wusste der Vater: Sie ist tot

Der ursprüngliche Fahrer des Lkw, Lukasz U., Vater eines Siebzehnjährigen, ist hier in vielen Gesprächen der Held, in seiner Heimat Polen sowieso, derjenige, der versucht habe, Leben zu retten. Seinetwegen ist auch Anna Pionka angereist, aus der Nähe von Stettin, wo auch Lukasz U. herkam. Sie legt Blumen auf den Asphalt und sagt: "Ich kann nur weinen, aber mit Tränen machen wir ihn nicht lebendig."

Nach drei Tagen Stille hat der Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wieder geöffnet. Keine laute Musik ist zu hören, kein Lachen, dafür Blumen und Kerzen überall am Boden. Die Spuren des Terrors vom Montagabend haben sich in die Gesichter der Überlebenden gegraben. Viele Budenbesitzer und Verkäufer weinen, liegen sich in den Armen. Äußerlich aber ist alles wieder repariert, gefegt, geputzt, denn es muss weitergehen.

Zwölf Menschen starben hier, 49 wurden verletzt, vierzehn von ihnen schwer. Die meisten Todesopfer sind inzwischen identifiziert. Wer sie sind? Generalbundesanwalt Peter Frank spricht von sechs Deutschen, die hier ums Leben kamen, etwa ein 32-jähriger Mann und eine 53-jährige Frau aus Brandenburg wurden Opfer an diesem Abend, an dem der Terror nach Berlin kam. Auch eine Frau aus Israel starb, ihr Mann überlebte mit Verletzungen am Bein und an der Hüfte. Bei der israelischen Botschaft haben sich sieben weitere Familien gemeldet, die ihre Angehörigen suchen, zwei von ihnen werden noch immer vermisst. Und dann ist da die Italienerin Fabrizia di L., sie gehörte einer Generation an, die man in Italien "Generazione Erasmus" nennt. Anfang 30, gut ausgebildet, weltoffen. Die Frau aus Sulmona in den Abruzzen kannte die deutsche Hauptstadt schon, weil sie ein Jahr an der Freien Universität studiert hatte, und später war sie wiedergekommen, um für eine Transportfirma zu arbeiten. Als Montagnacht ihr Handy und ihr Ausweis für die Berliner U-Bahn in den Trümmern des Weihnachtsmarkts gefunden wurden, begann ihre Familie sofort, auf Facebook nach ihr zu suchen. Auf Fotos sieht man eine Frau mit dunklen Augen und braunen Locken. Auf dem Breitscheidplatz war sie, um Geschenke zu kaufen. Zu Weihnachten hatte sie nach Italien fahren wollen. Jetzt ist ihre Familie in Berlin, der Vater sagte italienischen Medien, er habe schon Montagnacht "alle Hoffnung verloren".

Viele Schwerverletzte werden in der Berliner Charité behandelt, am Mittwoch kam Bundespräsident Joachim Gauck, um sie zu besuchen. Gauck sagte, er habe mit einem Mann gesprochen, "der verletzt wurde, weil er geholfen hat". Der Mann sei von einem herabstürzenden Balken im Genick getroffen worden, als er Verwundete retten wollte.

Die Extremisten sollen Geld aus dem Ausland bekommen, etwa aus Saudi-Arabien

Ein spanischer Student, der auf dem Platz neben der Kirche stand, als der Lkw die erste Bude niederwalzte, schreibt auf Twitter, die Umstehenden hätten sich "exzellent" benommen und den Verletzten Tee, Schals und Kissen gebracht. Der 21-jährige Iñaki Ellakuria aus Bilbao, der in seiner Heimat in der linken Unabhängigkeitsbewegung aktiv ist, ist gerade für ein Erasmus-Jahr in der Stadt. Als er den Lkw hörte, habe er sich umgedreht, "und hatte ihn vor meinem verdammten Gesicht". Er geriet mit den Beinen unter die Reifen, "das war der schlimmste Schmerz, den ich je in meinem Leben ertragen musste".

Nach Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt

Kein Lachen, dafür Blumen und Kerzen überall: Der Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz am Donnerstag.

(Foto: Rainer Jensen/dpa)

Die Berliner haben sich in den vergangenen Tagen mit erstaunlicher Ruhe und Gefasstheit dem Geschehenen gestellt, nicht nur hier, unter dem alten und dem neuen Turm der Gedächtniskirche, die die Spuren des letzten Krieges trägt. Drinnen stehen noch immer Menschen an, um sich in die Kondolenzlisten einzutragen. Vor dem Altar leuchten Hunderte Kerzen, der Organist übt für Weihnachten. Aber in der Stadt ist nicht nur Trauer, sondern auch so etwas wie der Wille zum Widerstand zu spüren. "Das wollen die IS-Leute ja gerade, dass wir einknicken und unser Leben aufgeben", hatte eine alte Dame gesagt. Als Elfjährige war sie in einem Luftschutzkeller eingeschlossen, hat Sterbende gesehen, Flammenmeere und Trümmerberge. Drei Tage nach dem Terror kommt es einem so vor, als läge in Berlin genau diese Erfahrung wie eine dicht gewebte Decke unter allem: Es wird weitergehen.

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