Berlin-Neukölln:Es ist euer Leben, Neuköllner

Franziska Giffey

Bleibt Bezirksbürgermeisterin von Neukölln: Franziska Giffey (SPD).

(Foto: Bernd Von Jutrczenka/dpa)

Mit Franziska Giffey hat der Berliner Stadtteil einen neuen Klang bekommen. Offen und optimistisch versucht die Bürgermeisterin, Neuköllns Bewohner aus 150 Nationen zu integrieren. Unterschätzen sollte man sie dabei nicht.

Von Jens Schneider, Berlin

Fünfzehn Hymnen erklingen im Rathaus Neukölln, fein gespielt von einem Cellisten und einer Pianistin. Die Nationalhymne der Türkei ist darunter, die syrische, jene Russlands und die von Eritrea. Im Saal sitzen fünfzig Männer, Frauen und Kinder. Einzelne stehen auf, als ihre Hymne dran ist.

"Dies soll ein besonderer Tag sein für Sie", so beginnt Bürgermeisterin Franziska Giffey, 38, ihre Rede zur Einbürgerungsfeier. Sie hat in diesen zwanzig Minuten intensiv beobachtet. "Man sieht häufig in den Gesichtern, wohin die Hymnen gehören", sagt sie. Da sei Abschied zu lesen, auch Melancholie. "Sie werden dieser Melodie immer verbunden sein, weil das sind Ihre Wurzeln, und das ist gut so."

Die Frau hat einen Job, den man für unmöglich halten könnte. Sie ist seit gut einem Jahr die Nachfolgerin von Heinz Buschkowsky, der den Berliner Bezirk Neukölln zu einem Symbol gemacht hat für das Scheitern der deutschen Integrationspolitik. Jahrelang schlug er Alarm, zu seinem Abschied erklärte er frustriert, dass all sein Warnen nicht geholfen habe. Er wurde ein Talkshow-Prominenter, seine Bücher zu Bestsellern.

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Es ist ja auch charmant hier: ein türkischer Supermarkt an der Karl-Marx-Straße.

(Foto: Carsten Koall/Getty Images)

Dieses Lächeln hilft, ein anderes Bild von Neukölln zu zeigen

Die Nachfolgerin, ebenfalls Sozialdemokratin, wird auch oft ins Fernsehen eingeladen. Aber mit ihr hat Neukölln einen anderen Klang bekommen. Das liegt auch daran, dass Giffey ihre Härte fein dosiert einsetzt. Erst mal sieht jeder das Lächeln und hört die zarte Stimme. "Wenn man mich betrachtet, hat man ein gewisses Bild im Kopf", sagt sie. Manche Menschen würden sie unterschätzen. Die würden aber nach einer gewissen Zeit eines Besseren belehrt.

Zugleich hilft dieses Lächeln, ein anderes Bild von Neukölln zu zeigen. "Nicht alles ist schlecht, nur weil es in Neukölln ist", sagt sie gern. "Es ist mehr als die Summe seiner Probleme." Im Rathaus lächelt sie die Menschen aus den vielen Nationen an und äußert die Hoffnung, dass für sie vielleicht eines Tages eine andere Hymne für Heimat steht. Sie meint die deutsche, sie wird am Ende der Feier gespielt. "Das kann man nicht verordnen, das kann nur wachsen." Sie schaut in die Reihen. "Sie sind längst Neuköllner. Sie wissen, wie der Bezirk tickt." Mit 328 000 Einwohnern aus 150 Nationen zählt er zu den zwanzig großen deutschen Städten; 14 000 mehr als Bonn, 26 000 mehr als Münster.

Die Bürgermeisterin wird in der Moschee höflich empfangen

Sie schwärmt: "Ich finde Neukölln großartig in seiner Internationalität." Um dann von den Problemen zu erzählen, den 78 000 Kunden, die das Job-Center hat. Von den vielen Kindern, die von Hartz IV leben, und dass 76 Prozent des Etats in Sozialleistungen gehen. "Stellen Sie sich vor, wenn sich das ändern würde." Wenn alle die Schule beendeten, gute Arbeit fänden. "Wir könnten das Geld für anderes nehmen. Irgendwann bauen wir davon Schulen und Spielplätze." Wäre das nicht was?

Wenige Tage später besucht sie eine der 21 Moscheen Neuköllns. Durch den Flüchtlingszustrom sei der Bezirk noch muslimischer geworden, sagt sie. Viele kamen bei Familien und Bekannten unter, oder kommen täglich aus anderen Bezirken her, "sie fühlen sich hier heimisch". Zum Freitagsgebet sind die Moscheen überfüllt.

In einer von ihnen wird Giffey mit großer Höflichkeit empfangen, der erste Besuch aus der Politik in vielen Jahren als Ehre empfunden. Sie schaut sich um, hört von der Sozialarbeit für Jugendliche. "Ein jedes Kind, das mal Arzt oder Pilot werden will, braucht die Gute-Nacht-Geschichte und das Bilderbuch, das die Eltern vorlesen", wirbt sie. "Es wäre schön, wenn wir Partner hätten, die in der Moschee sagen: Es ist wichtig, Kindern vorzulesen oder ein Schulbrot zu schmieren."

Am Anfang dieser Besuche stand eine Idee. Sie schrieb an alle Gemeinden und schlug vor, ein Zeichen zu setzen gegen Zwangsehen. Damals antwortete nur eine Handvoll. Eine antwortete, dass es hoffentlich nicht das gute Verhältnis belasten würde, wenn man ihr als Frau nicht die Hand gebe, aus religiösen Gründen. "Oh doch, das belastet das gute Verhältnis", erwiderte sie. "Unsere Werte sind nicht verhandelbar. Das müssen wir immer wieder sagen."

"Neukölln bleibt dreckig" - das kann doch nicht die Antwort sein

In Neukölln gibt es einen Spruch, dass kein Mädchen im muslimisch geprägten Rollbergviertel sich den Ehemann selber aussucht. Giffey zitiert ihn kopfschüttelnd. Regelmäßig suchen junge Muslima Hilfe beim Staat. Einige tauchen mit neuer Identität unter. Was ist an arrangierten Ehen freiwillig, wo beginnt der Zwang?

"Das sind Leute mit einem völlig anderen Weltbild", sagt sie. "Man möchte sagen: Leute, wacht auf, das kann nicht euer Ernst sein." Bei ihren Besuchen fragt sie zunächst viel. "Ich sage nicht, dass wir diese Sicht der Welt umdrehen werden", sagt sie. "Diese arrangierten Ehen, das ist so verfestigt, das werden wir nicht mal eben so aufbrechen." Es werde ein langer Weg. Einige Moscheen wollen schon mitmachen, andere will sie in Debatten bringen.

Anders als ihr Vorgänger ist Giffey nicht in Neukölln aufgewachsen, sondern in Fürstenwalde, Brandenburg. "Als die Mauer fiel, öffneten sich unglaublich viele Möglichkeiten. Das Ausland war ein absoluter Magnet." Sie arbeitete in einem Londoner Stadtteil in der Verwaltung. Dort lebten vor allem Schwarze. "Da habe ich gespürt, wie es sich anfühlt, fremd zu sein. Wenn meine Mitstudentin und ich in den Bus stiegen, waren wir diejenigen, die anders waren." Sie sagt: "Wichtig ist nicht, woher du kommst, sondern wer du sein willst."

Die jungen Menschen bräuchten eine Aufgabe, sagt Giffey

Man dürfe nicht die gleichen Fehler machen wie bei früheren Einwanderungswellen. "Wir haben die Parallelgesellschaften. Wir haben Leute, die seit 30 Jahren hier sind und kein Deutsch können und sich in ihrer Community eingerichtet haben." Wenige Meter vom Rathaus entfernt leben 600 Flüchtlinge in einem früheren Kaufhaus. Beim Besuch dort erkundigt sie sich beim Leiter der Unterkunft nach der Stimmung. Hier gibt es Sorgen, dass Anwerber unterwegs sind, aus kriminellen arabischen Großfamilien, die in Neukölln ihr Netz gespannt haben. "Natürlich wird nicht jeder kriminell oder Salafist", sagt sie. "Aber ich verstehe, dass Leute davor Angst haben."

Sie weiß um Ängste vor allem in bürgerlichen Vierteln Neuköllns. "Das muss man ernst nehmen. Wir müssen die jungen Menschen, die ankommen, als erste erreichen." Sie bräuchten eine Aufgabe, bald Jobs. "Wir erleben bei ganz vielen Flüchtlingen, dass sie so schnell wie möglich Deutsch lernen wollen. Ich höre oft die Bitte: Können wir nicht noch mehr Stunden haben?"

Kommen Gäste in diesen Bezirk, besteht Giffey darauf, dass sie auch das Gelungene sehen, etwa die Bilder der glücklichen Abiturienten des "Campus Rütli", dessen Vorgänger als Rütli-Schule zur düsteren Legende wurde. Beim Spaziergang durchs Quartier zeigt sie auf Blöcke, wo viele neue Eigentumswohnungen entstehen, die flott verkauft gewesen seien.

"Die Segregation war auch nicht gut."

Mit dem aktuellen Boom Berlins ist Neukölln für Investoren attraktiv geworden, und viele junge Leute mit gutem Einkommen ziehen her. Schon ist die Rede davon, dass Alteingesessene sich den Bezirk nicht mehr leisten können. "Die Investoren kaufen blind", sagt Giffey, "die sehen, wie nahe wir zum Zentrum liegen, zur Autobahn und zum Flughafen, der ja irgendwann eröffnen wird. Die sagen: Da kannste nix falsch machen." Die Politik versucht, die Mietsteigerungen durch eine Milieuschutzverordnung zu begrenzen.

"Aber das ist nur begrenzt möglich, und wir brauchen auch eine soziale Durchmischung." Es sei gut, wenn Menschen, die ihren Unterhalt selbst verdienen, ins Viertel kommen. Sie denkt an neue Geschäfte, die Straßen beleben, an Häuser, die renoviert werden: "Die Segregation vor zehn, zwanzig Jahren, als alle abwanderten, denen es ein bisschen besser ging, das war auch nicht gut." Ihr fällt ein Graffito ein. "Irgendeiner hat mal an eine Hauswand geschrieben, Neukölln bleibt dreckig. Das kann doch nicht die Antwort sein."

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