Berlin nach der Wahl:Wowi und die wilden Kerle

Haben die Berliner den Verstand verloren, dass sie einen Haufen Spinner in jedes Rathaus der Stadt und in ihr Landesparlament holen? Nein, haben sie nicht. Das politische Establishment, vor allem links der Mitte, sollte sich hüten, den Überraschungsangriff der Piraten als Scherz abzutun. Denn die jungen Wilden lassen die Tante SPD alt aussehen.

Constanze von Bullion

Berlin hat gewählt, und am Tag danach spielt die Stadt mal wieder ihre Paraderolle: das Enfant terrible der Republik. Fast jeder zehnte Wähler hat die Piratenpartei angekreuzt, einen Haufen junger Kerle, es sind fast alles Männer, deren Anführer nicht weiß, ob das Land Berlin ein paar Millionen Schulden hat oder ein paar Milliarden.

Auch zum Thema Arbeit, das existentiell ist für die Hauptstadt, hat der Pirat eher wenig zu sagen - außer, dass der Staat den Arbeitslosen bitteschön mehr Knete rüberschieben soll. Und ja, ganz wichtig, im Netz muss der Pirat frei herumsegeln können, gern Tag und Nacht. Und sonst? War's das schon? Haben die Berliner den Verstand verloren, dass sie einen Haufen Spinner in jedes Rathaus der Stadt und in ihr Landesparlament holen?

Haben sie nicht, jedenfalls nicht mehr als sonst, und das politische Establishment, vor allem links von der Mitte, sollte sich hüten, den Überraschungsangriff der jungen Wilden als Scherz am Rande abzutun, typisch Berlin halt. Es stimmt zwar, Berlin ist anders, taugt nicht als Schablone für den Rest des Landes. Die einst geteilte Stadt, die im Osten proletarisch geprägt ist und im Westen nach der Abwanderung von Geld und Mittelstand von Provinzialität geprägt war und von linkem Protest, widersetzt sich bis heute jedem Versuch, sie zu einer ganz normalen Bürgerhauptstadt zu machen.

Die Inseln der Studierten mögen wachsen in Berlin, Wissenschaftler und andere kluge Köpfe mögen zuwandern, westdeutsche Bürgerkinder mögen Bezirke wie Prenzlauer Berg vereinnahmt haben, sie füllen dort Kirchen und fordern in Schulen eine Leistungskultur, die der ihrer Kindheit verdammt ähnlich sieht. Bürgerlich, wirtschaftlich abgesichert, christlich geprägt, mithin gesellschaftlich traditionell wie die alte Bundesrepublik, ist Berlin deshalb nicht, wird es vielleicht nie werden, auch wenn mancher Hauptstadt-Feuilletonist sich das sehnsuchtsvoll herbeischreibt.

Wer das nicht glauben mag, braucht nur die Wahlergebnisse anzuschauen. Berlin hat die FDP mit großer Entschlossenheit aus dem Landesparlament geworfen, was kein Verlust ist. Das konservativ-bürgerliche Lager schnurrt so auf die CDU zusammen. Sie repräsentiert nicht mal ein Viertel der Berliner Wähler und ist umzingelt von Parteien, die sich als links verstehen. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat das forsch zum rot-grünen Triumph umgedeutet. Er sagte, die SPD werde mit den Grünen die Bundesregierung ablösen. Wirklich? Der Mann scheint im Kopf anderswo zu sein, in der frühen Ära Schröder/Fischer, als Rot-Grün hip war und für einen Generationswechsel stand.

Tante SPD trifft den Ton nicht mehr

Ob SPD und Grüne in Berlin zusammenfinden, ist keineswegs gewiss, ihre Mehrheit ist denkbar knapp. Schwerer noch aber wiegt, dass beiden Parteien das Kostbarste abhandenkommt, das sie besitzen: der Nachwuchs. Vor allem die Grünen müssen sich fragen, was los ist mit ihrer Partei, wenn in Teilen Kreuzbergs, dieser einst uneinnehmbaren grünen Festung, jeder Sechste die Piraten wählt. Das ist nur zum Teil der Kandidatin Renate Künast zuzuschreiben, die mit 80er-Jahre-Plakaten und sperrigen Themen daherkam. Auch die Liebe zum Internet taugt nicht, um die Erfolge der Piraten zu erklären, die Grünen sind im Netz vergleichsweise flott unterwegs.

Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus: Wahlparty Piratenpartei

Sensationeller Wahlerfolg in Berlin: Anhänger der Piratenpartei bejubeln das Wahlergebnis am Sonntag. Die Freibeuter kapern nicht nur grüne Herzensthemen.

(Foto: dapd)

Der Grund liegt tiefer, im Lebensgefühl einer Generation, die groß wird in einer Welt, in der Leistung zählt, wirtschaftlicher Erfolg, globale Anpassungsfähigkeit. Viele müssen - anders als ihre Eltern - schnell studieren, schnell einen Job finden, dann schnell weiter nach oben, damit noch Zeit zur Familiengründung bleibt. Sie leben mit dem Gefühl, um ihre wilden Jahre betrogen worden zu sein, auch mit der Angst, abgehängt zu werden. Manche sind es schon, hatten aufgehört zu wählen, fühlen sich heimatlos in einem System, das sie erleben wie einen Rechner, der nicht mehr reagiert. Die Piraten geben dieser Ungeduld einen Hafen, auch der Sehnsucht nach Freiheit, die viele nie genossen haben.

Die Freibeuter aber kapern nicht nur grüne Herzensthemen wie Bürgerrechte, Mitsprache, Transparenz. Auch die SPD lassen sie alt aussehen. Einen Klaus Wowereit, der auf der Funkausstellung zum Besten gibt, dass er kein Smartphone bedienen kann, auch keines braucht. Einen Franz Müntefering, der junge Existenzgründer und Netzarbeiter besucht, um sie - sichtlich ratlos vor blinkenden Schirmen - zu fragen, ob sie auch sozialversichert sind.

Die Tante SPD trifft den Ton nicht mehr bei den Jungen. Und auch der Linkspartei führen die Piraten vor Augen, dass eine Meuterei nottut. An der Parteispitze müssen endlich die Betonköpfe weg, die Mauerschönredner, die alten Ideologen, wenn die Linke wieder attraktiv werden will für nachwachsende Generationen.

Berlin ist anders als der Rest der Republik, anders als ihr bieder-bürgerlicher Westen, anders auch als der autoritär geprägte Osten. Die Stadt mag das Enfant terrible spielen, ewig werdend, unreif, querulant. Manchmal aber weht aus ihr ein frischer Wind, über den das Land sich freuen sollte. Er könnte manchen aufwecken, der in Selbstgewissheit zu entschlafen droht. Den Piraten ansonsten ein herzliches "Viel Spaß!" im Abgeordnetenhaus.

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