Berlin:Die Kraft des Neuen blieb auf der Strecke

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2016 ist Wahlkampf in Berlin: Der ob seiner Bescheidenheit beliebte Bürgermeister Michael Müller muss zeigen, dass eine Weltmetropole wie Berlin nicht zwangsläufig jämmerlich schlecht verwaltet und geführt sein muss.

Von Jens Schneider

Zu den unerschütterlichen Wahrheiten über die deutsche Hauptstadt gehört, dass Berlin nichts gelingt und sich dort keiner daran stört. Hier scheitern die Regierenden an Großprojekten so kläglich wie im Kleinen beim Betreiben von Bürgerämtern. Zuletzt vorgeführt hat Berlins Verwaltung ihr Talent, für alle Welt sichtbar zu versagen, im Umgang mit Flüchtlingen am Landesamt Lageso.

Mit diesem Image geht der rot-schwarze Senat unter dem Sozialdemokraten Michael Müller in das Wahljahr 2016. Zutiefst zerstritten, quält die Koalition sich selbst und Berlin mit inneren Blockaden. SPD und CDU bleiben nur bis zur Wahl im September zusammen, um sich die Blamage einer vorgezogenen Neuwahl zu ersparen. Nach der Wahl möchte Müller einen neuen Partner. Die Opposition, Grüne wie Linke, macht ihm seit Monaten Avancen.

Auch die CDU würde gern Neues versuchen, aber mit wem? Schwarz-Grün mag anderswo funktionieren, in Berlin ist die Distanz zu groß. So muss CDU-Chef Frank Henkel auf die Fortsetzung des Bündnisses mit der SPD hoffen, das nur noch Kraft für Nickligkeiten hat. Diese Perspektivlosigkeit fügt sich in den Reigen der Wahrheiten, die Berlins Bild seit Jahren prägen: Es regieren die, die nun mal da sind. Entsprechend trostlos vollzog sich vor einem Jahr der Wechsel im Roten Rathaus, als Klaus Wowereit an Müller übergab, den ewigen zweiten Mann.

Was Michael Müller kann - und was er noch zeigen muss

Dann aber passierte Verblüffendes; Müller überraschte: Er gewann Profil, indem er aus den leidigen Mustern der Berliner Politik ausbrach. Zuvor als Langweiler missachtet, wurde er nun für seine Bescheidenheit geschätzt. Er traf den richtigen Ton in einer Stadt, die von Großmäuligkeit und Ignoranz gegenüber Pannen genug hatte. Müller erreichte Popularitätswerte, die Wowereit in besten Zeiten nie hatte. Eine Normalität hielt Einzug, die den Blick für Entwicklungen frei machte, die hinter den vermeintlich unerschütterlichen Wahrheiten über Berlin oft übersehen worden waren: Im Sommer präsentierte Müller Zeichen des Wandels, ohne - wie er das ausdrückt - angeberisch auf "dicke Hose" zu machen. Er besuchte Start-ups und konnte nebenbei anführen, dass es in Berlin inzwischen mehr Neugründungen gibt als in jeder anderen Stadt Europas. Ende 2015 dürfte zudem Berlins Verschuldung erstmals seit Langem unter die 60-Milliarden-Marke gesunken sein. Das ist noch immer eine horrende Summe, aber belegt, dass unter seinen Vorgängern mit einem harten Sparkurs der Schalter umgelegt wurde. Nun kann wieder in die Stadt investiert werden. Berlin muss eine Verwaltung wieder arbeitsfähig machen, die weit unter die zumutbaren Standards geschrumpft ist. Endlich begannen Debatten über die Frage, wie die im Vergleich zu München oder Hamburg einkommensschwache Stadt wachsen kann. Das hatte etwas von einem Neuanfang. Berlin schien seine Mitte zu finden, zu der Selbstbewusstsein ebenso gehört wie das Wissen um eigene Schwächen. Berlins Politik richtete sich auf Müller aus, er gab den Ton vor.

Aber die Kraft des Neuen ist zuletzt auf der Strecke geblieben, besonders sichtbar im Streit um die Flüchtlingspolitik. Zwar rieb Müller sich persönlich auf. Aber geprägt wurde das Bild von Schuldzuweisungen an den Koalitionspartner. Der Regierende Bürgermeister regierte nicht, er ließ sich auf Ränkekämpfe ein und fiel hinter sich selbst zurück. Es wäre ein Missverständnis, wenn Müller glaubt, es ginge für ihn allein darum, die CDU auf Abstand zu halten und so die Wahl zu gewinnen. Der Wahlerfolg ist ihm angesichts der blassen Konkurrenz ohnehin schwer zu nehmen. Er steht vor einer wichtigeren Aufgabe. Er muss zeigen, dass eine Welt-Metropole wie Berlin nicht zwangsläufig jämmerlich schlecht verwaltet und geführt sein muss.

© SZ vom 04.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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