Berlin:Bestimmt ins Ungewisse

EU-Ratspräsident Donald Tusk in Berlin

"Ich befasse mich mit den Realitäten": Bundeskanzlerin Angela Merkel im Gespräch mit EU-Ratspräsident Donald Tusk in Berlin.

(Foto: Jesco Denzel/dpa)

Die Kanzlerin will nichts überstürzen. Dafür bekommt sie überraschende Unterstützung.

Von Nico Fried, Stefan Braun, Wolfgang Wittl

Der Spott macht es sich gemütlich in Angela Merkels Gesicht: Ein schmallippiges Grinsen, leicht verdrehte Augen, der Ansatz eines Kopfschüttelns. Ein Reporter hat sie eben gefragt, ob sie einen Brexit vom Brexit noch für möglich halte. Es ist nicht ganz klar, ob sich die Kanzlerin an diesem Montagmittag über den Fragesteller amüsiert - oder darüber, dass eine solche Umkehr der Briten nicht völlig abwegig erscheint. Meinte sie den Reporter, wäre es Unverständnis. Meinte sie die Briten, wäre es Schadenfreude. "Ich befasse mich mit den Realitäten", sagt Merkel diplomatisch.

Die EU müsse sich nun auf drei große Themen konzentrieren, fordern Steinmeier und Ayrault

Die Realitäten besagen, dass eine Mehrheit der Briten sich dafür entschieden hat, den Austritt des Landes aus der Europäischen Union anzugehen. Mehr nicht. Allein die Frage, wann die britische Regierung - welche auch immer - den Brief mit dem Antrag auf Eröffnung des Austrittsverfahrens nach Artikel 50 des EU-Vertrags stellt, ist völlig offen. Merkel sagt, sie erwarte diese Mitteilung zu "einem bestimmten Zeitpunkt". Das ist eine bemerkenswerte Formulierung, weil die Kanzlerin dann gerade die Bestimmtheit schuldig bleibt und stattdessen jede Menge Unbestimmtheit über ihren Zuhörern ausschüttet: Eine "dauerhafte Hängepartie", könne man sich nicht leisten, aber dass die Briten selbst die Lage erst einmal ein wenig analysieren müssten, "dafür habe ich ein gewisses Verständnis", sagt Merkel.

Merkels Vizekanzler ist da bedeutend ungeduldiger. Sigmar Gabriel teilt in Berlin mit: "Das Signal der Staats- und Regierungschefs muss lauten: Klarheit statt Taktiererei, entschlossenes Handeln statt Zaudern." Wenn zu viel Zeit vergehe, würden die Fliehkräfte in Europa zunehmen, sagt der SPD-Vorsitzende. Gabriel hat Sorge, dass zu langes Warten Rechtspopulisten in die Hände spielen könnte: "Das Brexit-Referendum hat Großbritannien gespalten. Damit der Brexit nicht auch Europa spaltet, müssen die Staats- und Regierungschef jetzt schnell für Klarheit sorgen."

Klarheit aber besteht einstweilen nur darüber, dass es keine "informellen Vorverhandlungen " geben soll, wie Merkel sagt. Und dass sich nicht allein die Briten sortieren müssen, sondern auch die übrigen 27 EU-Staaten. Die Gemeinschaft müsse zusammenhalten, fordert Merkel am Montagmittag, ehe sie führende Vertreter der EU empfängt. Als erster kommt Ratspräsident Donald Tusk, dann folgen Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi. Sie wollen den EU-Gipfel am Dienstag vorbereiten.

Dass von Frankreich und Deutschland eine gewisse Führung erwartet wird, haben mindestens die Außenminister beider Länder mal vorausgesetzt. Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault plädieren in einem zehnseitigen Papier dafür, die Arbeit der EU in der nächsten Zeit auf drei Großthemen zu konzentrieren: eine bessere Kooperation bei der äußeren und inneren Sicherheit, beim Umgang mit der Flüchtlingskrise und bei der Förderung von Wachstum. Dies sei bitter nötig, "um eine schleichende Aushöhlung unseres Einigungsprojektes zu verhindern". Andere Themen, so betonen es beide, könnten "nationalen oder regionalen Entscheidungsprozessen überlassen" bleiben.

Beide sprechen sich für eine "Sicherheitsunion" und eine gemeinsame Verteidigungspolitik aus; und beide machen deutlich, dass sie damit auch mehr Personal und mehr Geld fürs Militär und für ein ,,europäisches Zivilschutzkorps'' verbinden. Außerdem wollen sie die kontinentale Rüstungsindustrie stärken durch Forschungsprogramme.

Für den Kampf gegen den Terrorismus wollen der Sozialdemokrat Steinmeier und der Sozialist Ayrault Europol besser nutzen; außerdem fordern sie eine "europäische Plattform" für die Nachrichtendienste und eine Ausdehnung der Befugnisse der europäischen Staatsanwaltschaft. Das klingt nicht nach weniger, sondern nach mehr Vertiefung. Und gilt auch für ihr Plädoyer, den Grenzschutz komplett zur Gemeinschaftsaufgabe zu machen. Schwerer dürfte das bei ihrem Ziel einer "integrierten Asyl- und Flüchtlingspolitik" werden. Deshalb bringen sie an der Stelle die Idee ins Spiel, mit einer "Gruppe von Mitgliedstaaten voranzugehen". Als Merkel am Abend mit Hollande und Renzi vor die Presse tritt, ist das Papier der Außenminister in großen Teilen Politik der Chefs geworden. Der Europäische Rat am Dienstag müsse so geführt werden, "dass wir nicht die Zentrifugalkräfte stärken", sagt die Kanzlerin. Deshalb sollten nun konkrete Projekte verfolgt werden - es sind jene, die auch im Papier der Außenminister stehen. Man dürfe keine Zeit verlieren, sagt Hollande, weder was den Austritt der Briten angehe, noch was den "neuen Impuls" für die EU betreffe. Renzi sagt, dass der Austritt zwar traurig sei, man aber auch die Chancen sehen müsse, die darin lägen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: