Bericht über russische Wehrdienstleistende:Grausame Großväter

Im ersten Jahr wird der Rekrut gequält, im zweiten quält er selbst - so sehen die Verhältnisse Hunderttausender russischer Rekruten aus.

Von Daniel Brössler

Der Brief des Rekruten Dmitrij Samsonow war datiert vom 27. Mai und hatte folgenden Inhalt: "Mama, das ist, was ich in den nächsten Monaten brauche: Jede Woche 40 bis 50 Rubel und eine kleine Packung Prima-Zigaretten und auch welche mit Filter. Mama, bitte vergiss nicht, das sofort zu schicken. Sofort!"

Russische Soldaten, dpa

Die Verhältnisse in der russischen Armee sind bestürzend -in diesem Jahr sind bereits 25 Rekruten durch Quälereien gestorben, im gleichen Zeitraum sollen 109 Soldaten Selbstmord begangen haben.

(Foto: Foto: dpa)

Wochen später schrieb er einen weiteren Brief: "Ich denke, dass ich die Nacht nicht überleben werde. Oder ich werde überleben, aber es wird mich eine Menge kosten. Ich habe Dir geschrieben, Dich angefleht - für alle Fälle habe ich auch Oma geschrieben -, dass Du mir Geld schicken sollst, aber niemand hat geantwortet."

Am 13. Juli meldete sich Dmitrij aus einem Militärspital. Sein Handgelenk war gebrochen. Elf Tage später erhielten die Eltern das Telegramm mit der Todesnachricht. Der Wehrpflichtige Dmitrij Samsonow hatte sich die Pulsadern geöffnet.

Dmitrijs Eltern hatten die flehenden Briefe zu spät erhalten, weshalb ihr Sohn seine Peiniger nicht mit den verlangten Zigaretten hatte versorgen können.

Verhältnisse nicht geändert

Seine Geschichte liegt zwei Jahre zurück, die Verhältnisse in der russischen Armee haben sich aber nicht geändert. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat seinen Fall dokumentiert in einem jetzt vorgelegten Bericht über die Leiden Hunderttausender russischer Wehrdienstleistender.

Rekruten in Russland sind einem grausamen und gesetzwidrigen System ausgesetzt. Es nennt sich Dedowschina - Herrschaft der Großväter. Sie sind die älteren Soldaten, die im zweiten Jahr ihres Wehrdienstes stehen.

In vielen Einheiten beherrschen sie die Rekruten des ersten Dienstjahres völlig. "Im ersten Jahr wird der Rekrut gequält, im zweiten quält er selbst", sagt Diederik Lohman, Mitverfasser des Berichts.

Keine Rechte

"Zu Beginn ihres Dienstes haben die Rekruten keine Rechte, weder darauf zu essen noch sich zu waschen, sich zu erholen, zu schlafen oder krank zu sein, nicht einmal auf ein Zeitgefühl", heißt es darin.

Im Militärjargon werden die Neuen "Geister" genannt. Sie müssen jeden Befehl der "Großväter" ausführen und jederzeit schwere Misshandlung fürchten. Oft rauben die "Großväter" den "Geistern" ihr Eigentum und selbst ihr Essen. Zuweilen werden die jungen Rekruten gezwungen, betteln zu gehen.

"Die Dedowschina hat verheerende und dauerhafte Konsequenzen für den physischen und psychischen Zustand der Rekruten. Zehntausende junger Wehrpflichtiger versuchen deshalb jedes Jahr, aus ihren Einheiten zu fliehen.

Manche sind bereit, sich selbst und andere zu töten, wenn sie aufgegriffen werden", berichtet Human Rights Watch. Nach offiziellen Angaben sind in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 25 Rekruten durch Quälereien gestorben, im gleichen Zeitraum sollen 109 Soldaten Selbstmord begangen haben.

Human Rights Watch hält diese Zahlen für viel zu niedrig. Die Organisation forderte Präsident Wladimir Putin auf, Maßnahmen gegen die Misshandlungen zu ergreifen: Das liege im Interesse des Staates, da die Dedowschina "so offensichtlich die Effektivität der russischen Streitkräfte untergräbt".

Von einer Ächtung der Großväter-Herrschaft aber kann bislang keine Rede sein. Ein Reisebüro bietet neuerdings einen Urlaub mit Soldatenspiel auf einem früheren Truppenübungsplatz an - "nach Wunsch" Dedowschina inbegriffen.

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