Benjamin Netanjahu:Die Marionette hat den Faden verloren

Israels Premier Netanjahu ist ohne Mehrheit und nicht mehr zu halten: Er liegt mit fast allen im Land über Kreuz

Thorsten Schmitz

(SZ vom 23. Dezember 1998) Es war, als gäbe es ein Wunder zu feiern. Montag abend gegen neun Uhr hatte das Parlament Neuwahlen beschlossen, die Regierung des Premierministers Benjamin Netanjahu, Spitzname "Bibi", war am Ende.

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Benjamin Netanjahu

(Foto: Archiv)

In den Straßen von Jerusalem, Tel Aviv und Haifa applaudierten Menschen und kramten Trillerpfeifen aus Rucksäcken, Autos fuhren durch Tel Aviv mit Israel-Flaggen und hupten Stakkato, in Bars und Restaurants prosteten sich die Gäste "Le chaim!" zu, was soviel wie "Aufs Leben!" heißt.

Die Redaktionen des Landes legten eine Nachtschicht ein und schaufelten Platz frei - die Jerusalem Post zum Beispiel widmete dem "Super-Montag" vier Seiten, alle bereits geschmückt mit dem Logo "Wahlen '99".

Israel ist aufgewacht aus seinem Koma, in das die Rezession und die Rückschläge im Friedensprozeß das Land gestürzt hatten.

Nur die Religiösen zittern jetzt; zusammen mit dem Likud-Block hatten sie eine Stimme Mehrheit in der Knesset und regierten das Land - ihre Marionette Benjamin Netanjahu hat den Faden verloren.

Schon hängen die ersten Wahlplakate, auf denen der Chef der Arbeitspartei, Ehud Barak , mit einer "besseren" Zukunft lockt - einer Zukunft ohne religiöse Erpresser.

Die meisten Israelis sind Netanjahu leid; jenen Mann, der vor zweieinhalb Jahren mit der Losung angetreten war, der Premier aller Israelis sein zu können, aber noch nicht einmal der Premier des eigenen Lagers war.

Unter jungen Israelis ist Netanjahu ähnlich unpopulär, wie Kohl es zuletzt in Deutschland war - nur hat Netanjahu nicht sechzehn Jahre gebraucht, um es sich mit fast allen zu verderben, sondern zwei.

Neue Intifada befürchtet

Außer den Religiösen trauerten am Dienstag auch die Palästinenser. Denn vor den Neuwahlen kommt der Wahlkampf, und solange der läuft, gelten Friedensprozess und israelische Truppenrückzüge als eingefroren.

Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat sekundierte in Arafats Namen: "Jeder andere Premierminister als Netanjahu ist uns lieb. Allerdings wissen wir nicht, ob unser Volk die Geduld hat, auf einen neuen zu warten." Erekat fürchtet eine Fortsetzung der Intifada.

Bis in die späte Nacht hinein war der Platz vor dem israelischen Parlament am Montag eine Open-Air-Knesset.

Mit heiseren Stimmen und wild gestikulierend standen die Politiker in kleinen Grüppchen beisammen.

Chaim Ramon von der Arbeitspartei prostete mit einem Glas Weißwein: "Thank God, Bibi is done!", während der Chef der extrem-religiösen Shas-Partei, Aryeh Deri, als Emissär zwischen den Grüppchen herumwirbelte und für eine große Koalition warb. Dafür war es längst zu spät.

In einem letzten Verzweiflungsakt, der ihm nur höhnisches Gelächter von den Abgeordnetenbänken einbrockte, hatte der Premierminister kurz vor der Abstimmung mit Tremolo in der Stimme den Oppositionsführer Barak angefleht: "Lassen Sie uns eine Auszeit von 72 Stunden nehmen und über eine große Koalition verhandeln!"

Brüsk lehnte Barak ab: "Sie beschimpfen und beleidigen uns seit Monaten - und kurz vor Ihrem politischen Tod sollen wir Partner werden?"

Israels beliebtester Kommentator, Tom Lipin, lästerte Dienstag früh im Radio: "Wie tief muß Netanjahu gesunken sein, daß er seinem Intimfeind die Zusammenarbeit offeriert? Bibi sitzt wie ein Todeskandidat in der Gefängniszelle, der alles tut, um die Exekution rauszuschieben." Allerdings war die politische Situation am Tag nach der Debatte alles andere als klar.

Netanjahu wird bis zu Neuwahlen, womöglich im April, noch sein Amt behalten, weil er direkt vom Volk gewählt worden ist.

Und, soviel steht fest, er wird wieder kandidieren. Das beteuerte er Dienstag mittag wieder, bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach dem Flop, der Einweihung einer Autobahnkreuzung.

Barak von der Arbeitspartei tritt ebenfalls an - und dann schon wird es undurchsichtig. Denn spätestens seit der Nacht zum Dienstag gibt es mindestens ein Dutzend Möchtegern-Premierminister, auch einstige Netanjahu-Kollegen.

Viele Kleinst- und Mittelparteien werden ihre eigenen Kandidaten ins Rennen schicken - oder gleich ganz neue Parteien gründen.

Benny Begin etwa, der Sohn des Likud-Gründers und Ex-Premierministers Menachem Begin. Er war bislang strammer Likud-Mann, nun findet er, Netanjahu sei "einfach nicht rechts genug". Israel brauche eine "starke neue Partei".

Er will für die Interessen radikaler Siedler eintreten - die mit Netanjahu gebrochen haben, weil er den Vertrag von Wye unterschrieben hat. Außerdem wollen Premierminister werden: Dan Meridor, Ex-Finanzminister des Likud, der am Dienstag bekanntgab, auch er werde eine neue rechte Partei gründen; dann die Kabinettsmitglieder Uzi Landau und Limor Livnat sowie - gerüchteweise - Verteidigungsminister Jitzhak Mordechai, der sich mit Netanjahu überworfen hat.

Netanjahu wird es schwer haben, gegen diese Bande an Profil zu gewinnen, weil er, so der Politikwissenschaftler Yehuda Yaron von der Hebräischen Universität in Jerusalem, "jedes Vertrauen verspielt hat". Der Premier sei ein "eindimensionaler Politiker ohne den Hauch einer Vision", sagt Yaron.

Das habe man auch gut an seiner Knesset-Rede ablesen können: "Seit Wochen quält uns Netanjahu mit immer denselben Reden über stets dieselben nicht erfüllten Verpflichtungen der Palästinenser, die einzig seinem Machterhalt dienen.

Er stößt den US-Präsidenten vor den Kopf - um sich die Gunst rechter Koalitions-Mitglieder zu sichern."

Die Taktik sei am Montag nicht aufgegangen, Yaron prophezeit ein trauriges Ende: "Netanjahu wird ziemlich bald ein ziemlich einsamer Mann sein."

Der Sohn äußert eine Bitte

Also genau das Gegenteil von Amnon Lipkin-Shahak. Der 53 Jahre alte Mann mit dem silbergrauen Haar ist so etwas wie der Messias, auf den alle Liberale und Linke warten.

Wenn er dürfte, könnte er jeden Tag 20 Interviews geben, sagt seine Schwiegermutter am Telephon, CNN und israelisches Fernsehen, Ma'ariv und New York Times, sie alle rennen ihm das Haus ein.

Shahak hätte viel zu sagen, flüstern Freunde, aber als bisheriger Generalstabschef darf er sich vor Anfang April politisch nicht äußern.

Nur soviel ist bislang bekannt: Er wird als Spitzenkandidat der von Tel Avivs Ex- Oberbürgermeister Roni Milo gegründeten Zentrumspartei um das Amt des Premiers kämpfen.

Wenn man ersten Umfragen glaubt, liegt Lipkin-Shahak gut im Rennen. Er würde sogar Barak ausstechen, der erfolglos versucht hat, ihn zum Eintritt in die Arbeitspartei zu bewegen.

Die Menschen mögen an ihm erstens, daß er General ist, was inzwischen in Israel ein Muß geworden ist für politische Karrieren. Und sie sagen zweitens, er sei charmant, intelligent und voller Visionen für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern - alles Attribute, an denen es Benjamin Netanjahu mangelt.

Und er ist mit Lea Rabin befreundet, der Witwe des ermordeten Premierministers Jitzchak Rabin . Am Dienstag appellierte dessen Sohn Yuval in einer Talkshow, man möge Shahak wählen: "Das", erklärte Rabin junior, "würde mein Vater wollen."

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