Bahn-Unfall:Bad Aibling: Zu Fuß zur Katastrophe

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Klettern, sägen, bergen - warum der Einsatz am Unfallort bei Bad Aibling für die Retter besonders schwierig ist.

Von Lisa Schnell, Oliver Klasen, Katharina Blum und Korbinian Eisenberger

Vor dem Alpenpanorama knattern Rettungshubschrauber in der Luft. Schon Kilometer vor dem Unfallort Schlangen von roten Rettungswagen, Polizeiautos, Trauben von Hunderten Sanitätern in roter Montur. Am Unfallort rattern die Generatoren der Feuerwehr. Mehrere Dutzend Rettungskräfte stehen am Bahndamm und bilden eine lange Reihe. Ihre Gesichter sind zu den Gleisen gewandt. Dort kämpfen sich ihre Kameraden mit Sägen durch verformte Trümmer, die mal zwei Züge waren, auf der Suche nach Überlebenden, nach Toten. An der Stelle, wo sie sich ineinanderbohrten, sieht es so aus, als habe jemand zwei Waggons an der Dachkante aufgeschlitzt. Der Triebwagen des einen Zuges ist aus den Schienen gesprungen und um etwa 45 Grad nach rechts gekippt. Auf einer Fläche von mehreren Quadratmetern quillen große, zerquetschte Metall- und Plastikteile aus dem Wrack. Schwer vorzustellen, dass jemand, der sich zum Zeitpunkt des Unglückes dort befand, überlebt hat.

Mindestens zehn Menschen haben es nicht überlebt. Das Bahnunglück in Oberbayern ist eines der bundesweit schlimmsten der vergangenen Jahrzehnte. Am Nachmittag zählt die Polizei neben den zehn Toten 18 schwer und 63 leicht Verletzte. Sie saßen im Zug von Holzkirchen nach Rosenheim, der etwa um 6.40 Uhr auf der eingleisigen Strecke mit einem anderen Zug zusammenprallte. Zum Zusammenstoß kam es in einer Kurve, die Lokführer wurden wahrscheinlich beide von dem jeweils entgegenrasenden Zug überrascht. Auf die Bremse traten sie deshalb wohl nicht. Es wird angenommen, dass die Züge sich mit einer Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometer ineinander verkeilten. In kürzester Zeit wurde alles an Rettungskräften mobilisiert, was die Region hergibt: Feuerwehr, Polizei, Bergwacht, Wasserwacht, das Rote Kreuz, auch Retter aus dem nahen Österreich, aus Tirol, waren im Einsatz. Insgesamt sind es mehr als 700 Helfer. Ein vergleichbares Großaufgebot gab es zuletzt bei der Bergung des Forschers Johann Westhauser aus der Riesendinghöhle. Nur drei Minuten nachdem die Katastrophenmeldung bei der Feuerwehr eingegangen war, sind sie am Unglücksort.

"Es war alles still", sagt Kreisbrandrat Richard Schrank aus Rosenheim. Kaum Hilferufe, alles stand unter Schock. Auch die acht bis zehn Fahrgäste, die sich selbst aus den Trümmern befreien konnten. Selbst Schrank, der schon seit 33 Jahren dabei ist, hat so etwas noch nicht gesehen. Viele der etwa 150 Fahrgäste sind eingeklemmt. Beim Aufprall der Züge sind sie mit einer brutalen Wucht gegen die Wand, gegen Fahrgäste gegenüber oder auf den Boden geschleudert worden. Die Notärzte berichten später von Schnittwunden, schwersten Splitterknochenbrüchen, Schleudertraumata und Quetschungen. "Wir schaffen das. Wir müssen das schaffen", das dachte sich Kreisbrandinspektor Klaus Hengersberger, als er die Katastrophe sah.

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(Foto: Uwe Lein/dpa)

Der Ort des Zugunglücks nahe dem bayerischen Bad Aibling im Kreis Rosenheim.

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(Foto: Michael Dalder/Reuters)

Um kurz vor sieben Uhr morgens waren hier zwei Züge frontal zusammengestoßen.

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(Foto: Matthias Schrader/AP)

Retter versorgen vor Ort Verletzte.

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(Foto: Uwe Lein/AFP)

Nach derzeitigem Stand gab es zehn Tote sowie 63 Leicht- und 18 Schwerverletzte.

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(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Die Arbeit gestaltet sich schwierig: Die Unfallstelle befindet sich zwischen dem Fluss und einem bewaldeten Hang und ist schwer zugänglich.

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(Foto: Peter Kneffel/AFP)

Die Unfallstelle liegt in einer Kurve, die Züge waren in entgegengesetzter Richtung auf der eingleisigen Strecke Rosenheim - Holzkirchen unterwegs.

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(Foto: Uwe Lein/AP)

Insgesamt sind rund 500 Rettungs- und Sicherheitskräfte vor Ort.

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(Foto: Sven Hoppe/dpa)

15 Hubschrauber sind im Einsatz, um Verletzte abzutransportieren.

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(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Zum Teil werden die Opfer auch in Bergungssäcken von den Hubschraubern hochgezogen und an das andere Ufer geflogen.

Die mittelschwer, leicht oder gar nicht Verletzten können schnell in Sicherheit gebracht werden. Die Krankenhäuser in der Umgebung hatten schon am Morgen die Nachricht bekommen, all ihre Operationsräume frei zu halten. Zu denen, die eingeklemmt sind, müssen sich die Feuerwehrleute Stück für Stück vorarbeiten. Das Material der Züge ist sehr viel schwerer aufzuschneiden als etwa bei Lastwagen. "Man muss ganz ruhig bleiben", sagt Schrank. Bei einem Fahrgast dauert es fast zweieinhalb Stunden, bis sie ihn freibekommen. Die Feuerwehrleute fräsen und schneiden, die Sanitäter versorgen ihn mit Sauerstoff und Schmerzmitteln.

Die Zusammenarbeit zwischen Sanitätern, Notärzten und Feuerwehrleuten funktioniert optimal, betont jeder, der dabei war - trotz der ungünstigen Bedingungen am Unfallort: auf der einen Seite bewaldete Hügel, auf der anderen der Kanal der Mangfall. Die Verletzten werden mit Seilwinden hochgezogen und mit Hubschraubern in die Kliniken geflogen oder per Boot weggebracht. Die Einsatzkräfte müssen auf einem kleinen, schlammigen Weg am Kanal entlang zur Unfallstelle fahren oder laufen und den Hügel hochsteigen.

Weil Faschingsferien sind, saßen keine Schüler im Unglückszug

Etwa kurz nach elf Uhr vormittags schleppen sich dort zwei Feuerwehrmänner entlang. Ihre neongelben Uniformen sind voller Dreck, hinter dem Ohr des einen klemmt eine gelbe Taschenlampe. Sie tragen eine Leiter. Damit kämpften sie sich vor ins Zuginnere zu den Verletzten, den Toten. Wie geht es ihnen? "Das kommt immer erst nachher", sagt der eine. Etwas weiter warten ihre Kameraden vor ihrem Feuerwehrauto, um sie abzulösen. "Übel", sagt einer und schüttelt den Kopf. Vor allem für die vielen jungen Kameraden, die dabei sind. Marcel Kreidl ist 18 Jahre alt. Er war drüben am Zug. Er müsse jetzt helfen, hieß es. Kreidl, der Anlagemechaniker, hat die Verletzten auf einer Trage nach draußen gebracht. Ein Mann, den er gerade in den Hubschrauber getragen hat, sei noch bei Bewusstsein gewesen. "Ich kann so etwas schnell verkraften", sagt er. Kreidl ist einer der wenigen, die an diesem Dienstag darüber sprechen, was sie am Gleis gesehen haben. Gegen Nachmittag werden die beiden letzten Toten geborgen, von den Hubschraubern ist jetzt nichts mehr zu hören. Die, die bis zum Schluss draußen warten, haben blasse Gesichter, leere Augen, ein kurzes Kopfschütteln. Bitte jetzt nicht ansprechen. Auf sie warten Kollegen in grellen Westen mit dem Schriftzug: "Krisenintervention". Sie sind da für die Einsatzkräfte, aber auch für die Angehörigen.

SZ-Karte (Foto: sz grafik)

Langsam breitet sich bei den Bad Aiblingern das Entsetzen aus, was manchen ihrer Nachbarn, ihrer Freunde passiert ist. "Ich wollte heute Mittag mit dem Zug fahren", sagt ein Mann am Marktplatz. Und: "Gott sei Dank sind Faschingsferien". Sonst wäre der Zug vollgepackt gewesen mit Schülern, sagt er und schaut all die Journalisten an, die sich vor dem Rathaus versammeln. Innen drin findet gerade eine Pressekonferenz zu dem Unglück statt. Eigentlich sollte an diesem Faschingsdienstag das Prinzenpaar im Rathaus tanzen, Bürgermeister Felix Schwaller hatte Geschenke für die Faschingsdamen. Jetzt sind alle Feierlichkeiten abgesagt. Nicht nur in Bad Aibling und Rosenheim. Auch der Politische Aschermittwoch findet nicht statt. "Die ganze Region ist betroffen", sagt Landrat Wolfgang Berthaler. Und nicht nur die, neben Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer sprach auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Beileid aus. Das ganze Land treibt die eine Frage um, die sich auch Berthaler in diesem Moment stellt: "Wie konnte das passieren?"

Eine halbe Stunde später erklärt Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt, dass er nichts erklären kann. Die Strecke sei gesichert durch ein automatisches Zugsicherungssystem. Befinde sich ein Zug auf einem Gleis, wo er nicht sein dürfte, würde es automatisch eine Notbremsung durchführen. Warum das nicht passiert ist, weiß er nicht. Die Technik sei noch vergangene Woche überprüft worden, sagt ein Sprecher der Bahn. Man müsse jetzt auf die Auswertung der drei Blackboxes warten. "Es muss alles dafür getan werden, um die Ursache restlos aufzuklären", sagt der bayerische Innenminister Joachim Herrmann. Und fügt hinzu: "Eine 100-prozentige Sicherheit aber kann es nie geben."

© SZ vom 10.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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