Baden-Württemberg:Musterland der politischen Lyrik

Vom autoritären Regierungsstil eines Stefan Mappus zu Winfried Kretschmanns "Leuchtturm der Bürgerbeteiligung": Diesen erhofften Kulturwandel wird es nur geben, wenn neben den Regierenden auch die Regierten das Mitmachen lernen - und auch das Verlieren.

Ein Kommentar von Roman Deininger, Stuttgart

Bei letzter Prüfung hatte Baden-Württemberg keine Küste - ein Befund, der Winfried Kretschmann allerdings nicht davon abhält, dort alsbald einen "Leuchtturm" errichten zu wollen. Der erste grüne Ministerpräsident plant, den vom Stuttgarter Bahnhofsstreit gepeinigten Südwesten zum deutschen "Musterland" der Bürgerbeteiligung zu machen.

Von den vielen ehrgeizigen Reformprojekten der neuen Landesregierung ist das vielleicht das ehrgeizigste. Alles, was Schwarz-Gelb bei Stuttgart 21 falsch gemacht hat, will Grün-Rot jetzt richtig machen. Von einer "neuen Demokratie" ist die Rede, in der eine "Bürgerregierung" ergeben einer "Bürgergesellschaft" dient. Momentan ist Baden-Württemberg allerdings höchstens das Musterland für politische Lyrik.

Die schönen Worte von der neuen Macht des kleinen Mannes haben bei manchen schwer zu erfüllende Erwartungen geweckt - und schwer auszuräumende Befürchtungen bei jenen, die das Mitmach-Potenzial des repräsentativen Systems für ausreichend und noch lange nicht ausgereizt halten. Die Staatsrätin Gisela Erler, Kretschmanns Projektleiterin beim Leuchtturm-Bau, spricht von einem "Grundkurs Bürgerbeteiligung", den das Land gerade besuche.

Der Kurs hält ein paar knochenharte Lektionen bereit, für das Volk und die Regierung. Die Bürger, so die übereinstimmende Lehre aus Stuttgart 21, wollen sich einmischen in Entscheidungen, die sie betreffen. Soll der schwäbische Leuchtturm 2013 wie erhofft Kontur annehmen, müssten sie langsam mal damit anfangen.

Baden-Württemberg ist auch deshalb ein guter Boden für diese Versuchsanordnung, weil Stefan Mappus hier mit autoritärer Führung der ganz alten Schule - um im Leuchtturm-Bild zu bleiben - Schiffbruch erlitten hat. Sein Nachfolger Kretschmann dagegen will die Bürger schon mitreden lassen, bevor sie überhaupt wütend werden können.

Der erste echte Testlauf für die neue Demokratie geriet aber durch den Übermut der grün-roten Erneuerer ins Stottern: Sie ließen die Menschen auch da mitreden, wo es faktisch nichts mehr mitzureden gab, beim rechtlich wie finanziell schon festgezurrten Flughafenbahnhof von Stuttgart 21. Die Bürger, die vor diesem ebenso aufwendigen wie folgenlosen "Filderdialog" nicht wütend waren, waren es spätestens hinterher.

Grün-Rot steht vor dem Problem, wie man genug Bürger motiviert, ihre schöne neue Bürgergesellschaft mit Leben zu füllen, auch wenn es mal nicht um die Vergrabung des Stuttgarter Hauptbahnhofs geht. Und, zweiter Schritt: Wie man die wenigen verlässlich Motivierten, die Bürgerinitiativen mit ihren klar definierten Interessenslagen, dazu bringt, ein weiteres Beispiel Kretschmann'scher Lyrik zu durchdringen - dass nämlich die Bürgerregierung alle Bürger "hören" will, aber niemals alle "erhören" kann.

Den erhofften Kulturwandel wird es nur geben, wenn neben den Regierenden auch die Regierten lernen: erst das Mitmachen, und dann auch mal das Verlieren.

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