Autor Clinton überlebensgroß:Ungelesen und schon ein Bestseller

Schlampig geschrieben, selbst beweihräuchernd und über weite Strecken schlicht langweilig: Das Urteil der Kritiker ist verheerend. Warum Bill Clintons Autobiografie trotzdem schon jetzt ein Renner ist.

Von Wolfgang Koydl

Sieht man von Jahrhundert-Bestsellern wie der Bibel oder Lenins gesammelten Werken ab, dann gibt es zur Zeit nur ein anderes Druckwerk, das mit Bill Clintons Autobiografie konkurrieren kann.

Autor Clinton überlebensgroß: Ein Leben auf 975 Seiten - schon jetzt millionenfach verkauft.

Ein Leben auf 975 Seiten - schon jetzt millionenfach verkauft.

(Foto: Foto: ap)

Lediglich die Erlebnisse des Zauberlehrlings Harry Potter sind im Vorverkauf schneller und in größerer Stückzahl abgesetzt worden als die Erinnerungen des Ex-Präsidenten. Sage und schreibe 1,5 Millionen Exemplare hat Clintons Verlag Alfred A. Knopf von dem 975 Seiten starken Wälzer drucken lassen - und auch schon verkauft.

Noch bevor das erste Buch in einem Laden auftauchte, waren zwei Millionen Bände vorbestellt worden. Damit liegt die Autobiografie schon jetzt auf Platz eins der Bestsellerliste des Internet-Buchhauses amazon.com. Nur Belletristik-Bestseller können da mithalten: Michael Crichtons Science-Fiction-Roman "Timeline" beispielsweise oder die christlichen Religionsthriller der "Left Behind"-Serie.

Auf dem Markt der politischen Bücher indes überragt Bill Clinton überlebensgroß jede Konkurrenz. Auch wenn es so aussehen mag, als ob sich das Buch fast von selbst verkaufen würde, haben die Marketingstrategen von Knopf nichts dem Zufall überlassen.

"Wir wollen den Leuten Appetit machen"

"Dies ist die bei weitem größte und ehrgeizigste Marketingkampagne für einen Memoirenband, die ich je gesehen habe", merkte John Baker vom Branchenblatt Publishers Weekly anerkennend an. Generalstabsmäßig wurde der Werbefeldzug für "My Life" geplant.

Seit Freitag strahlen "Infinity Broadcasting" über seine 185 Radiosender und "America Online" über das Internet häppchenweise Auszüge aus der von Clinton selbst gelesenen Audio-Version des Buches aus. "Wir wollen den Leuten Appetit machen", erklärt dazu Knopfs Sprecher Paul Bogaards.

Die Radiospots sind die einzige Vorab-Information, die es gibt, da der Verlag bewusst darauf verzichtet hat, in den USA Vorabdruckrechte an eine Zeitung oder Zeitschrift zu verkaufen.

"Wir hatten viele Angebote, aber wir haben keines davon akzeptiert", meint Bogaards. "Die Leute müssen schon zum Buch kommen." Nach seinen Worten empfehlen sich Vorabdrucke in Serienform nur dann, wenn man den Autor bekannt machen will. Bei Clinton freilich sei dies nicht notwendig.

Dennoch ist es einigen Kritikern gelungen, sich das Buch vorab zu beschaffen, und deren Anmerkungen dürften den Verlag nicht freuen. Das Buch enthalte insgesamt wenig Neues, befand am Sonntag Michael Isikoff vom Magazin Newsweek.

Und die New York Times urteilte: ein "Mischmasch" aus allem Möglichen, an das sich Clinton erinnere, schlampig geschrieben, selbst beweihräuchernd und über weite Strecken schlicht langweilig. Die Memoiren spiegelten in vielerlei Hinsicht Clintons Präsidentschaft wider: Auf Grund eines Mangels an Disziplin seien gute Chancen vertan worden, heißt es auf der Seite eins der Sonntagausgabe.

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