Auszeichnung:Der Traum vom geeinten Europa

Der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi (auf der Großbildleinwand) spricht auf einem Treffen von Karlspreis-Trägern im Mai 2004 in Barcelona.

Der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi (auf der Großbildleinwand) spricht auf einem Treffen von Karlspreis-Trägern im Mai 2004 in Barcelona.

(Foto: Victor Fraile/Reuters)

Im Jahr 1949 hatte ein Kaufmann aus Aachen die Idee, einen Preis zu stiften. Der Karlspreis ist heute renommiert, auch wenn kritisiert wird, dass er oft an Konservative geht.

Von Stefan Ulrich

Viele Menschen, die den Petersdom in Rom besichtigen, laufen achtlos über die rote Porphyr-Scheibe, die im Fußboden des Längsschiffes eingelassen ist. Der Prunkaltar des Gian Lorenzo Bernini und die Opulenz der Deckengewölbe ziehen den Blick an und verhindern, dass er nach unten schweift. Dabei wäre es die - mit einem Durchmesser von gut zweieinhalb Metern ziemlich große - Steinplatte wert, beachtet zu werden. Genau hier, auf dieser Scheibe, spielte sich europäische Geschichte, ja Weltgeschichte ab.

Die Steinplatte schmückte einst den Boden der von Kaiser Konstantin um das Jahr 324 nach Christus errichteten Vorgängerbasilika, auch Alt Sankt Peter genannt. Dort befand sie sich vor dem Hochaltar. Am ersten Weihnachtstag des Jahres 800 kniete ein bärtiger Mann mittleren Alters auf dem Porphyr. Es war Karl, der König des Frankenreiches, den die Nachwelt als "Karl den Großen" rühmen sollte. Papst Leo III. nahm eine Krone in beide Hände und setzte sie dem König auf den Kopf. Die Gläubigen jubelten und wünschten, der Überlieferung nach, "dem von Gott gekrönten und friedenbringenden Kaiser der Römer Leben und Sieg".

In diesem Moment lebte, jedenfalls symbolisch, das antike römische Imperium wieder auf, das später als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation fortleben sollte. Griechische Philosophie, lateinische Zivilisation und christliche Religion verschmolzen zur Idee des "Abendlandes" und des "Westens".

Elfeinhalb Jahrhunderte nach Karls Kaiserkrönung, im Dezember 1949, warb Kurt Pfeiffer, Kaufmann in Aachen, in einem Lesekreis gebildeter Stadtbürger für seine Idee: Er wollte einen Internationalen Preis der Stadt Aachen stiften, der jenen zukommen sollte, "die den Gedanken der abendländischen Einigung in politischer, wirtschaftlicher und geistiger Beziehung gefördert haben".

Die Vereinigten Staaten von Europa als Hoffnung? Davon spricht heute niemand mehr

Auch über Aachen, die einstige Lieblings-Pfalz Karls des Großen, waren durch den rassistisch-nationalistischen Wahn der Nazis im Zweiten Weltkrieg Tod und Zerstörung gekommen. Nun wollten Pfeiffer und seine Freunde an ein ganz anderes Gedankengut der Geschichte anknüpfen. Sie fanden es im Wirken Karls des Großen, der weite Teile der lateinischen Welt unterworfen und neu geordnet hatte. Pater Europae, Vater Europas, wurde der Kaiser daher später genannt.

Inwieweit dieser Ehrenname berechtigt ist, bleibt umstritten. Die Aachener Bürgerschaft glaubte jedenfalls, eine tragende Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft Europas gefunden zu haben. So wurde der "Karlspreis der Stadt Aachen" proklamiert. Zum Stifterkreis zählten Vertreter der Wirtschaft, Kirchenmänner und Wissenschaftler.

Schon zu Christi Himmelfahrt 1950 ehrte Aachen im Krönungssaal des Rathauses den ersten Karlspreis-Träger. Die Wahl fiel auf Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, einen Schriftsteller und Politiker österreichisch-japanischer Herkunft, der die bis heute in vielen Ländern aktive Paneuropa-Bewegung gegründet hatte.

In seiner Rede sagte Coudenhove-Kalergi: "Es war eine kühne Initiative Ihrer Stadt, durch Stiftung dieses Preises eine Brücke über elf Jahrhunderte zu schlagen, von der großartigen Tradition des Frankenreiches zur größten Hoffnung unserer Tage: den Vereinigten Staaten von Europa."

Ein solcher Bundesstaat scheint heute, in Zeiten einer verzagten, zerstrittenen, ungeliebten Europäischen Union, wieder in weite Ferne gerückt zu sein. Der Karlspreis aber gilt längst als wichtigste Auszeichnung der Europa-Idee.

Kein Karlspreis für Willy Brandt und Helmut Schmidt

Das Direktorium der Karlspreisgesellschaft verstand es, durch die Ehrung besonders berühmter Europäer den eigenen Preis aufzuwerten. Heute liest sich die Liste der Gewürdigten wie ein Who's who der europäischen Einigung: von Jean Monnet, 1953 ausgezeichnet, dem ersten Präsidenten des Vorläufers der EU-Kommission, bis zu Martin Schulz (SPD), 2015 geehrt, dem gegenwärtigen Präsidenten des EU-Parlaments.

Ein Verdienst des Karlspreises ist es, dass er bald nach dem Völkerschlachten des Zweiten Weltkriegs auf eine vornationalistische Tradition Europas aufmerksam machte. Zugleich warb und wirbt er für eine friedliche Vereinigung des Kontinents im Zeichen humanistisch-christlicher Werte.

Zum Direktorium, das den Preisträger bestimmt, gehören der Oberbürgermeister Aachens, der Dompropst, der Rektor der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule, Mitglieder des Stadtrats, weitere Bürger der Stadt sowie zwei sogenannte Weltbürger.

Der Karlspreis ist seit Langem international anerkannt, zieht aber auch die Kritik auf sich, er prämiere vor allem christlich-konservative Politiker. So finden sich unter den Gewürdigten zwar die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), Altkanzler Helmut Kohl (CDU), der frühere spanische König Juan Carlos I. oder der gegenwärtige Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker (Christsozialer aus Luxemburg); die sozialdemokratischen früheren Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt, die sich um Europa ebenfalls außergewöhnlich verdient gemacht haben, wurden aber nie ausgezeichnet.

Der Preisträger 2016, Papst Franziskus, ist kein Europäer. Dennoch bündeln sich in ihm verschiedene Linien europäischen Denkens: Der Papst aus Argentinien ist ein in Moralfragen konservativer Christ, der durch seine Sensibilität für die Armen und seine Kritik am Kapitalismus sozialdemokratisch-sozialistisches Gedankengut teilt. Die Erwartungen des Direktoriums an den Pontifex sind anspruchsvoll. Er soll die Brücke zu Karl dem Großen schlagen und dafür sorgen, dass sich der alte Kontinent erneuert.

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