Auswege aus der Massenarbeitslosigkeit:Chance für Hunderttausende

Langzeit-Arbeitslose müssen aus dem Wartestand heraus: wie man ihre Talente entdecken und fördern kann.

Peter Hartz

"Wir haben den Arbeitsmarkt insgesamt wetterfester gemacht", hat Bundesarbeitsminister Olaf Scholz vor kurzem gesagt. Er ergänzte: "Die Frage ist: Wie gehen wir jetzt weiter, wenn die See richtig stürmisch wird?" Und es wird, allen Prognosen zufolge, stürmisch werden.

Auswege aus der Massenarbeitslosigkeit: Peter Hartz will Langzeitarbeitslose wieder dauerhaft beschäftigen.

Peter Hartz will Langzeitarbeitslose wieder dauerhaft beschäftigen.

(Foto: Foto: AP)

Wobei man nicht übersehen darf, dass schon jetzt eine gesellschaftliche Gruppe schlechter geschützt ist als andere: die mehr als zwei Millionen Langzeitarbeitslosen, diejenigen also, die Arbeitslosengeld II beziehen. Sie sind vielfältig beeinträchtigt - sozial und materiell. Hinzu kommen Gesundheitsrisiken. Das alles begünstigt Resignation, Passivität und Isolation.

Weil ich überzeugt bin, dass dieses Problem in weiten Bereichen lösbar ist, hat die gemeinnützige saarländische Stiftung SHS Foundation zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlern, Fachleuten und mir in dreijähriger Arbeit ein innovatives Konzept entwickelt. Wir nennen es in Anlehnung an das französische Wort für Unternehmer: Minipreneure.

Interdisziplinäre Betrachtung

Erstmals unterzieht es die komplexe Problematik einer interdisziplinären Betrachtung. Es stellt den arbeitslosen Menschen, das Individuum, in den Mittelpunkt. Für das Konzept wurde ein biopsychosozialer Ansatz gewählt, der sich dem Problem umfassend nähert: Er betrachtet die biomedizinische Seite der Aufgabe, berücksichtigt die psychologischen Aspekte und hat die wirtschaftlichen Dimensionen ebenso im Blick wie die gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen.

Genutzt werden die in den vergangenen Jahren gewonnenen Erkenntnisse der Neurobiologie, der Motivations- und Stressforschung, des Coachings sowie Methodiken der Selbsthilfe. Das Konzept fußt auf der Mitarbeit exzellenter Professoren, die all ihre Kompetenz eingebracht haben, zum Beispiel der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther, die Psychologen Hilarion Petzold und Heinz Schuler sowie weitere Spezialisten und Berater.

Das Konzept im einzelnen: Gesundheit ist bei der Arbeit mit Langzeitarbeitslosen ein zentrales Thema. Ziel ist, sie wieder in eine gesundheitsbewusste, körperlich, seelisch und geistig aktive Lebensführung zu begleiten. Lähmung und Resignation sollen aufgelöst werden, indem diese Menschen Ermutigung, Unterstützung erfahren. Sie brauchen empowerment, wie die Fachleute sagen, sie müssen wieder Zutrauen gewinnen, ihre Talente entdecken und ihren Lebensplan neu entwerfen; nach dem Motto: "Mache dich selbst zum Projekt!"

Neu an diesem Konzept ist auch die individuell unterschiedliche Betrachtung von arbeitslosen Männern und Frauen, von Älteren und Jungen - weil jeder die prekäre Situation anders erlebt. Für jede und jeden wird ein individuelles Profil seiner oder ihrer Stärken ermittelt: Persönliche Talente, kognitive Fähigkeiten, Wissen, Interessen und Motivationen werden erfasst. Diese Talent-Diagnose ermöglicht eine Zuordnung der individuellen Ressourcen zu den am besten passenden beruflichen Aufgaben - viele Menschen sind nämlich auch deshalb so lange arbeitslos, weil sie von Anfang an in den für sie falschen Beruf geschickt wurden.

Und weil jede Region andere Sorgen und Chancen hat, ermittelt ein "Beschäftigungsradar" für jeden Einzelnen alle vorhandenen und potentiellen Beschäftigungsmöglichkeiten - heruntergebrochen bis auf die Ebene des Stadtteils. Jeder und jede Langzeitarbeitslose trifft auf eine Beraterrunde aus Wirtschaftsfachleuten, Sozialwissenschaftlern, Psychologen, Neurologen, Beratungsspezialisten und Managern. Da man von erfolgreichen Selbsthilfegruppen gelernt hat, dass Betroffene am besten von Menschen erreicht werden, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, gehören zu den Beratern auch ehemalige Arbeitslose. Die wissen nämlich, was Sache ist.

Chance für Hunderttausende

Aus dem sonst üblichen Dialog wird damit ein "Polylog": ein vielfältiger Austausch aus unterschiedlichen Perspektiven auf lokaler Ebene. In den Beraterrunden werden überdies Methodiken der Selbsthilfe wie "Exchange Learning" und "Exchange Helping" angewendet:

Jeder und jede hat im Leben schon die verschiedensten Erfahrungen gemacht; diese werden nun in die Gruppe eingebracht, damit jeder davon profitieren kann. Das weckt Interesse und Engagement, fördert kreatives und innovatives Denken, erzeugt Selbstvertrauen und Vertrauen zum anderen sowie Loyalität zum Projekt. Kreative Techniken und Anregungen, welche Produkte und Dienstleistungen man als Minipreneur dem Markt anbieten kann, werden ebenfalls zur Verfügung gestellt.

Forum und Instrumentarien

Kurz: Es wird ein Forum geschaffen, um Ideen zu entwickeln und Impulse für Verbesserungen zu erhalten. Denn der Einzelkämpfer hat in der Regel geringere Chancen als Netzwerke, in denen sich die Mitglieder wechselseitig unterstützen, Kenntnisse austauschen und voneinander lernen. In deren Fehlen lag auch eine Schwachstelle des arbeitsmarktpolitischen Instruments der Ich-AG.

Damit sind wichtige Instrumente geschaffen, um die Probleme des einzelnen Arbeitslosen anzugehen. Wie aber wird ihre Vernetzung mit den betreuenden Institutionen erreicht? Die Möglichkeiten des kommerziellen Franchise-Systems zur Verbreitung und Umsetzung von Konzepten können auch hier angewandt werden, in Form von "Social Franchising" also.

Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Leistungen des Konzepts gebündelt werden, dass es eine Vernetzung gibt unter den Argen, (den Arbeitsgemeinschaften aus Arbeitsagenturen und Kommunen) sowie den Kommunen, die Langzeitarbeitslose in Alleinregie betreuen. Dies sichert auch einen gleichbleibend hohen Qualitätsstandard sowie eine unbefristete, lokale Betreuung aller Minipreneure.

Und wichtig: Deren finanzielle Situation wird durch die Teilnahme an dem Programm nicht verschlechtert - sondern im Gegenteil verbessert. Nach dem Gesetz haben Langzeitarbeitslose, die sich selbständig machen, Anspruch auf Einstiegsgeld, und dies zwei Jahre lang. Dieses Einstiegsgeld wird aber bisher von jeder Arge unterschiedlich hoch und unterschiedlich lange bewilligt - dies sollte für die Teilnehmer an dem Minipreneure-Programm geändert werden.

Die Ressourcen dafür sind in Berlin, Nürnberg und den Ländern in dem erforderlichen Umfang verfügbar. Selbst bei pessimistischer Betrachtung erhalten auf diese Weise 200.000 bis 600.000 Menschen eine Perspektive. Es ist also ein Konzept, das geeignet ist - um noch einmal den Arbeitsminister zu zitieren -, die Langzeitarbeitslosen auch beim zu erwartenden rauen Wetter wieder ins Boot zu holen.

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