Austritte in 2016:Die Basis der Kirche bröckelt leise

Kirchen geben Auskunft zu Mitgliederentwicklung 2016

Gläubige im Dom St. Petri in Bautzen (Sachsen).

(Foto: dpa)
  • Die Austrittszahlen in der evangelischen und der katholischen Kirche sind im vergangenen Jahr gesunken.
  • Dennoch treten immer noch weit mehr Menschen aus der Kirche aus als vor knapp zehn Jahren.
  • Durch den kleinen Babyboom in Deutschland gab es jedoch mehr Taufen, und auch die Einnahmen durch die Kirchensteuer liegen auf einem Rekordhoch.

Von Matthias Drobinski

Man kann die Zahlen positiv sehen: Das kirchliche Leben in Deutschland habe sich "im vergangenen Jahr als weitgehend stabil erwiesen", erklärt erfreut die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Die evangelische und die katholische Kirche haben ihre Daten zum kirchlichen Leben veröffentlicht, im zweiten Jahr in ökumenischer Verbundenheit am gleichen Tag.

Tatsächlich sind die Austrittszahlen beider Kirchen gesunken: Verließen 2015 noch 210 000 Menschen die evangelische Kirche, waren es ein Jahr später nur noch 190 000. Bei den Katholiken gab es 2015 noch 182 000 Austritte und 2016 noch 162 000. 21,9 Millionen Menschen gehören nun der evangelischen Kirche an, 23,6 Millionen der katholischen; rechnet man noch die ungefähr drei Millionen freikirchlichen, orthodoxen und sonstigen Christen hinzu, sind 58,3 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen Christen. Dass Deutschland einem "Prozess forcierter Entchristlichung" ausgesetzt sei, wie Kardinal Gerhard Ludwig Müller in der italienischen Zeitung Il Foglio klagte, lässt sich mit diesen Zahlen nicht belegen.

Wohl aber lassen sich die veröffentlichten Zahlen auch weniger positiv für die Kirchen interpretieren. Vor drei Jahren, 2014, verließen weit überdurchschnittlich viele Menschen die großen Kirchen, insgesamt fast eine halbe Million Menschen. Viele gingen, weil sie sauer darüber waren, dass die Banken die Steuern auf Zinserträge automatisch ans Finanzamt abführten - und die Kirchensteuer gleich mit. Dieser Ärger ist verraucht, entsprechend traten 2016 weniger Menschen aus - aber immer noch deutlich mehr als zehn Jahre zuvor: 2006 kehrten nur 84 000 Menschen der katholischen und 121 000 der evangelischen Kirche den Rücken.

Die Basis der Kirchen ist weit vom Zusammenbruch entfernt, aber sie bröckelt leise. Das zeigt sich besonders, wenn man über die Ausrittszahlen hinaus die Mitgliederentwicklung ansieht. Rechnet man Taufen und Beerdigungen, Austritte und (Wieder-)Eintritte, Zuwanderung und Abwanderung gegeneinander auf, verlor die evangelische Kirche 2016 fast 350 000 Gläubige, die katholische 180 000. Wieder einmal erweist sich das katholische Milieu als stabiler als das evangelische - die Skandaljahre 2010 (Missbrauch) und 2013 (Bau des Limburger Bischofshauses) ausgenommen. Zudem profitiert die katholische Kirche von der Einwanderung aus überwiegend katholischen Ländern. Trotzdem hat die katholische Kirche zwischen 2006 und 2016 zwei Millionen Mitglieder verloren, die evangelische allerdings 3,2 Millionen.

Positiv für die Kirchen: Die Zahl der Taufen ist leicht gestiegen, auf 180 000 in der evangelischen und 171 000 in der katholischen Kirche; der kleine Babyboom in Deutschland macht sich auch hier bemerkbar. Auch die Zahl der Eintritte und Wiedereintritte ist in den vergangenen Jahren insgesamt leicht gewachsen; 9000 Menschen traten in die katholische und 25 000 in die evangelische Kirche ein. Der Gottesdienstbesuch in der katholischen Kirche ist 2016 von 10,4 Prozent auf 10,2 Prozent zurückgegangen, am niedrigsten ist er in den Bistümern Aachen und Hildesheim (7,8 Prozent), am höchsten in Görlitz (19,3) und Erfurt (17,2), wo die Katholiken eine kleine Minderheit sind. Im Westen schneiden die bayerischen Bistümer Regensburg und Eichstätt am besten ab, mit jeweils mehr als 15 Prozent. Der Kirchenbesuch in der evangelischen Kirche liegt bei unter fünf Prozent. Dennoch gehen mehr als drei Millionen Menschen sonntags in den Gottesdienst.

Bei der Kirchensteuer zeigt sich ein Rekordhoch

In jeder Hinsicht erfreulich für die großen Kirchen ist die Entwicklung der Kirchensteuer: Dank der guten Konjunktur nahm die katholische Kirche 2016 6,15 Milliarden Euro ein, die evangelische 5,45 Milliarden - erneut ein Rekordhoch.

Austritte in 2016: POL Grafik Kirchenzahlen

POL Grafik Kirchenzahlen

Die EKD und die Bischofskonferenz setzten bei der Deutung der Zahlen unterschiedliche Akzente. "Wer heute einer christlichen Kirche angehört, entscheidet dies in völliger Freiheit", hieß es bei der EKD, und wenn 2016 "mehr als 99 Prozent der Mitglieder ihrer evangelischen Kirche die Treue gehalten" hätten, sei dies "Ausdruck einer hohen Verbundenheit". Hans Langendörfer, der Sekretär der Bischofskonferenz, sagte zwar auch, er freue sich, dass "fast ein Drittel der Bevölkerung zur katholischen Kirche gehört" und viele dieser Mitglieder sich aktiv in ihrer Kirche engagierten. Die Austritte zeigten aber, "dass die Weitergabe des kirchlichen Glaubens nicht vollständig gelungen ist". Die Kirche müsse den Ausgetretenen "aktiv nachgehen, um ihre Beweggründe zu verstehen und unser Handeln danach kritisch zu überprüfen".

Mitgliedschaft in der Kirche: eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung

Erste Ergebnisse einer Studie im Auftrag des Bistums Essen deuten darauf hin, dass die Kirchensteuer oder Kirchenskandale oft nur der letzte Anlass sind, der Kirche zu kündigen. Ein Team um den Siegener Religionspädagogen Ulrich Siegel wertet derzeit die Antworten von 3000 Teilnehmern einer Online-Befragung aus. Dort zeige sich, dass der Austritt meist Ergebnis eines längeren Prozesses der Entfremdung und der fehlenden Bindung sei, so Siegel.

Ausgetretene beschrieben häufig die Kirche als Institution, die "aus Machtinteressen und Ränkespielen besteht". Viele Menschen würden in einer Art Kosten-Nutzen-Rechnung abwägen, ob Hochzeiten, Taufen oder Begräbnisse die Kirchensteuer wert seien. Das sei auch eine Chance für die Kirchen - wenn sie die Menschen an solchen Punkten positiv ansprechen würden.

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