Ausstieg aus der rechten Szene:"Das ist wie eine Sekte"

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Aussteigen, ohne die früheren Kameraden zu verpfeifen: 550 Neonazis sollen sich in den vergangenen elf Jahren aus der Szene verabschiedet haben. Ohne die Hilfe von Organisationen wie Exit schaffen es die wenigsten. Ein Aussteiger berichtet von seinem langen Weg aus dem Rechtsextremismus.

Antonie Rietzschel

Drei Tage brauchte Daniel Beyer*, bis er schließlich die Nummer von Exit wählte. Er wollte sich endlich aussprechen, über diese quälende Unzufriedenheit mit seinem Leben und seine Zweifel an einer Idee, die ihn seit seiner Kindheit geprägt hat. Die längste Zeit seines Lebens war Daniel, der eigentlich anders heißt, ein überzeugter Neonazi: Sein Großvater hatte ihm vom Dritten Reich vorgeschwärmt, als Jugendlicher las er nationalsozialistische Literatur, mit 20 war er der Meinung, selbst aktiv werden zu müssen und ging in den "Nationalen Widerstand". "Ich war eine Führungsperson", sagt er. Als Mitbegründer einer Kameradschaft meldete er rechtsextreme Internetseiten auf seinen Namen an und rekrutierte neue Mitglieder.

Heute gehört Daniel zu den 443 Menschen, die mit Hilfe der Aussteiger-Organisation Exit in den vergangenen zwölf Jahren aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen sind. Die Zahl stammt aus einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken. Exit ist die älteste Organisation für aussteigewillige Neonazis in Deutschland. Gegründet hat sie der ehemalige Kriminalpolizist Bernd Wagner im Jahr 2000.

443 Ex-Nazis in elf Jahren? Angesichts von aktuell etwa 25.000 aktiven Rechtextremen in Deutschland klingt das nach einer mauen Bilanz. Doch Bernd Wagner ist zufrieden. "Wir sprechen hier von Leuten, die in der ersten, zweiten oder dritten Reihe standen. Die stecken ganz tief in den Strukturen. Die da rauszuholen, ist nicht einfach", sagt er. Auch Andreas Speit meint, dass die bloße Zahl von Aussteigern nichts über die Qualität der Arbeit der jeweiligen Aussteigerhilfe aussage. "Wenn allein ein Neonazi aussteigt, ist das schon gut", sagt der Journalist und Rechtsextremismus-Experte.

Tatsächlich ist der Prozess des Ausstiegs langwierig. Seit dem Jahr 2000 betreute das vierköpfige Team von Exit 40 bis 50 Aussteiger pro Jahr. Zwischendurch stand das Projekt, das sich vor allem durch staatliche Förderung finanziert vor dem finanziellen Aus. Somit ist die Zahl 443 tatsächlich beachtlich.

Warten auf den Tag X

Als sich Daniel an Exit wandte, dachte er nicht daran, tatsächlich auszusteigen. Er wollte einfach nur mit einem Außenstehenden reden. All die Jahre hatte er auf den Tag X gewartet, an dem sich sein Traum von einem "Vierten Reich" erfüllen würde: "Es war wie eine Mauer, gegen die man immer wieder anrannte. Doch egal was man tat, sie bekam keine Risse", sagt Daniel. Frustriert sei er gewesen. Dazu kam die Scham, als von ihm "politisierte" Kameraden wqegen versuchter Tötung vor Gericht standen und ihre Eltern ihn für die Tat mitverantwortlich machten.

Bernd Wagner hörte Daniel stundenlang zu - dann stellte er seine Fragen: Wo stehst du? Wo willst du hin? Bis Daniel sagte, dass er aussteigen wolle, verging ein halbes Jahr. Er stellte fest, dass es die Ideologie war, die ihm im Weg stand: "Das war wie eine Sekte."

Als Erstes sorgte Exit für die Sicherheit des Aussteigers. Das Team unterstützte Daniel bei der Suche nach einer neuen Wohnung, um ihn vor ehemaligen Kameraden zu schützen. Exit half ihm bei der Vermittlung eines Anwalts und Gängen zum Gericht, denn Daniel hatte in seiner Zeit als Neonazi verschiedene Straftaten begangen. Auch bei der beruflichen Neuorientierung unterstützte man ihn. Er holte sein Abitur nach. Gleichzeitig begann die Auseinandersetzung mit seinem früheren Leben. In Diskussionen mit verschiedenen Gesprächspartnern begann Daniels stark antisemitisch geprägtes Weltbild zu bröckeln.

"Das Schlimmste war das Alleinsein. Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass mit dem Ausstieg auch mein soziales Umfeld wegfällt", sagt der ehemalige Neonazi. Nachts rief er Bernd Wagner an, weil ihn Ängste plagten. Nach zwei Jahren hatte er es geschafft. Das war 2005. Heute führe er genau das Leben, das er sich gewünscht habe: "Frei von Ideologie."

Das bundesweite Programm Exit ist nicht das einzige, das sich in Deutschland um Aussteiger kümmert. In Baden-Württemberg etwa gibt es Big Rex - die Mitarbeiter sind Polizisten und sprechen aktiv Szenemitglieder an. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz bietet seit 2001 Hilfe für Szeneaussteiger an. Zu deren Bilanz nahm die Bundesregierung auf Nachfrage der Linken ebenfalls Stellung: In den vergangenen zehn Jahren half das Bundesamt mehr als hundert Menschen beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene. Die Zahl verwundert angesichts dessen, dass die Behörde grundsätzlich nichts anderes anbietet als Exit.

Wann ist ein Neonazi ein Aussteiger?

Möglicher Grund für die Unterschiede: Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist eine staatliche Einrichtung, die vor allem an Informationen über die rechtsextreme Szene interessiert ist. "Man will ja aussteigen und nicht die Kameraden verpfeifen", sagt Andreas Speit. Auch das Bundesamt selbst räumt ein, dass sich ausstiegswillige Neonazis möglicherweise nicht an eine Behörde wenden würden, die etwas gegen sie in der Hand hätte.

Insgesamt ist die Nennung konkreter Zahlen problematisch, weil unklar ist, wann ein Neonazi eigentlich als Aussteiger gilt. Ein mutmaßlicher Terrorhelfer des Zwickauer Trios erklärte, dass er seit 2000 aus der rechten Szene ausgestiegen sei. "Dennoch hat er den NSU gedeckt", sagt Extremismus-Experte Speit. Carsten S . hatte dem Neonazi-Trio in seiner Zeit als aktiver Neonazi die Waffe besorgt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Neonazi-Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) benutzt wurde. Für Bernd Wagner ist ein Neonazi dann ausgestiegen, wenn er unter anderem keine Kontakte mehr zu rechtsextremen Gruppen unterhält, seine Straftaten offenlegt und sich mit seinen Taten auseinandersetzt. Rückblickend sagt Daniel, dass er bereits mit dem Anruf bei Exit zum Aussteiger wurde.

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