Muslime in Deutschland:Warum es mich nicht geben darf

Jung und weiblich, muslimisch, fromm und aufgeklärt - das alles passt nicht in Thilo Sarrazins islamfeindliche Thesen. Warum der Politiker und Bundesbank-Vorstand trotzdem so viele Menschen anspricht.

Lamya Kaddor

Man muss diesen Text mit einem Paradoxon beginnen: Ich existiere gar nicht. Ich schreibe zwar diese Zeilen, aber ich bin nicht da. Ich haben nämlich studiert und gehe einem sozialversicherungspflichtigen Job nach; ich verteidige die Demokratie und bin doch gläubige Muslimin. In den Augen vieler Zeitgenossen kann es das aber nicht geben. Nein, dies ist kein Märchen; es ist ein schlechter Witz, der mitten in der Realität Deutschlands seine Runden macht.

Wurzeln in Syrien, geboren in Westfalen: Wissenschaftlerin Lamya Kaddor

Lamya Kaddor, 32, ist Islamwissenschaftlerin und Lehrerin in Münster. Sie hat eine Koranausgabe für Kinder mit herausgegeben und 2010 das Buch "muslimisch, weiblich, deutsch!" veröffentlicht.

(Foto: ddp)

Seit einer Woche drängt ein neuer Erzähler auf den Plan: Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied und Vorstand der Bundesbank, der seine kruden Weisheiten unter dem Deckmantel der Integrations-Debatte unters Volk bringt. Einige mögen sich über ihn und sein neues Buch ärgern. Andere mögen entsetzt sein, mit welcher Chuzpe er Gehässigkeiten von sich gibt. Doch der eigentliche Skandal ist nicht Sarrazin. In Deutschland gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung; unsere Demokratie muss auch die Parolen der NPD ertragen.

Sarrazin als "Klartext-Politiker"?

Besorgniserregender und gefährlicher für das gesellschaftliche Gefüge sind all jene, die Sarrazins chauvinistische Darlegungen hoffähig machen. Das eigentlich Erschütternde ist der breite Raum, der ihm geboten wird. Wann kommt es vor, dass eine große Zeitung für ein Buch, das im Grunde nichts Neues erzählt, gleich an mehreren Tagen ganze Seiten frei räumt, um darauf Auszüge abzudrucken, weitgehend frei von jeder kritischen Begleitung? Der Autor wird im Gegenteil als "Klartext-Politiker" positiv apostrophiert. Seine Ausführungen heißen "Analysen", dabei könnten Studierende im Grundstudium seine Argumente mühelos widerlegen.

Warum also so viel Ehre für einen Mann, der behauptet, das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung könne auch genetisch bedingt sein? Der mit der Einschränkung von Grundrechten spielt und Menschen kalt nach ihrem ökonomischen Wert in nützlich und nutzlos einteilt? Dieses Auftreten ist nicht nur selbstherrlich, es macht Angst. Sarrazin denkt nicht anders als ein Islamist; beide löschen sie den Geist des Grundgesetzes aus.

Kommenden Montag darf Sarrazin zur Bundespressekonferenz kommen, um sein Pamphlet offiziell zu präsentieren. Begleitet wird er von seiner Kronzeugin, der Islamkritikerin Necla Kelek. Sie soll verhindern, dass auf Sarrazin der Schatten des Rassismus fällt. Kelek ist schließlich selbst Muslimin, sie kommt aus der Mitte der türkischen Gesellschaft, sie vertritt selber Thesen, die in Inhalt und Stil Sarrazins Werk ähneln. Sarrazin befindet sich also in guter Gesellschaft, wenn er auf großer Bühne das Feindbild Islam unters Volk bringen darf; einen gemeinsamen Auftritt mit einem kritischen Gesprächspartner im Haus der Kulturen in Berlin lehnte der Ex-Senator nach Angaben der Veranstalter übrigens ab.

Irritiert konnte man vor einigen Tagen zur Kenntnis nehmen, dass es seine Publikation bereits auf Verkaufsrang eins des Online-Buchhändlers Amazon geschafft hat. Die Käufer werden nicht allesamt Claqueure sein; viele aber dürften seine Aussagen blind unterschreiben. Möglicherweise stimme der Tonfall nicht, heißt es oft, aber inhaltlich sei eben auch nicht alles falsch, was er sage. Im Buch finden sich zahlreiche Fehler - doch ob Thilo Sarrazin Recht hat oder nicht, spielt im Grunde keine Rolle. Wer derart diffamierend auftritt, hat den Anspruch verwirkt, ernst genommen zu werden. Beim Lesen solcher Texte geht es nicht darum, das Haar in der Suppe zu finden, sondern allenfalls den Tropfen Suppe zwischen lauter Haaren.

Der Sarrazin-Overkill motiviert die Menschen

Gewiss hat und bereitet ein Teil der muslimischen Bevölkerung in Deutschland Probleme. Keiner würde dies ernsthaft bestreiten, es braucht keinen Sarrazin, um das zu sehen. Selbstverständlich haben Türken und nicht etwa Vietnamesen die größten Integrations-Defizite. Das liegt aber zum Teil einfach daran, dass Türken die größte Migrantengruppe stellen. So können sie sich bequem in Parallelgesellschaften zusammenfinden. Wie sollte das den paar Vietnamesen im Land gelingen? Die Sinnlosigkeit solcher Vergleiche zeigt übrigens ein Blick gen Osten. In Polen sind es die Vietnamesen, die nach Ansicht vieler große Probleme haben und machen.

Die Welt lechzt nun aber nach einfachen Erklärungen, einfachen Bildern. Es ist leicht, diese hinzunehmen, wenn man sich selbst in ihnen nicht wiederfindet. Ein respektvoller Umgang miteinander kann nur über Empathie funktionieren. Doch die sogenannten Islamkritiker und ihre Förderer machen sich offensichtlich keinerlei Gedanken darüber, welche Verantwortung sie tragen und was ihr Handeln bei den vielen muslimischen Mitbürgern anrichten kann, die unauffällig ihrem Alltag mit Arbeit, Familie und Freizeit nachgehen, dabei kein Aufheben um ihre Religion machen, aber im Stillen dennoch Halt im Glauben suchen. Um mit Bundeskanzlerin Merkel zu sprechen: Sie fühlen sich "äußerst verletzt".

Mehr Auswanderer als Einwanderer

Der Sarrazin-Overkill motiviert einerseits Menschen, "endlich Klartext" zu reden. Er lässt aber auch viele Menschen hilflos zurück. Pubertierende muslimische Schüler werden in ihrem Frust bestärkt. Akademiker sind vom Entgegenkommen für die Islamkritiker angewidert und sprachlos. Wurden ihre Eltern und deren Eltern nicht geholt, um die deutsche Wirtschaftskraft mitzutragen? Waren es nicht ihre Väter und Großväter, die mit einer Staublunge aus der Kohlengrube kamen, weil sich eingeborene Deutschen zu gut dafür waren? Mittlerweile verzeichnet Deutschland jährlich mehr Auswanderer als Einwanderer - und das gilt auch für Türken: 2009 kamen 30000. Und es gingen: 40000.

Mahatma Gandhi hat einmal gesagt: "Genugtuung liegt im Einsatz, nicht im Erreichen." Man könnte zu Recht an dieser Stelle einwenden, die Muslime sollten sich mehr bemühen, statt so viel zu lamentieren. Doch wenn Muslime sich für Fortschritt und Veränderung in den eigenen Reihen einsetzen, bekommen sie es nicht nur mit den Fundamentalisten zu tun, die um ihren Einfluss fürchten.

In bemerkenswerter geistiger Brüderlichkeit erhalten sie Unterstützung durch die sogenannten Islamkritiker, denen daran gelegen ist, dass der Islam fundamentalistisch und reaktionär daherkommt. Progressive Muslime werden dann als Heuchler abgestempelt, die nicht ehrlich mit der islamischen Überlieferung umgehen, oder als hilflose Rufer in der Wüste. Am Dogma, dass der Islam prinzipiell nicht zu integrieren ist, darf nicht gerüttelt werden.

Aber was wollt ihr dann von uns?

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