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BAMF-Chef Manfred Schmidt

Manfred Schmidt, 55, ist seit 2010 Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.

(Foto: Stefan Puchner/dpa)

Die Propaganda der Dschihadisten und Salafisten in Deutschland wird immer professioneller.

Von Manfred Schmidt

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge betreibt eine Beratungsstelle gegen Radikalisierung. Ständig melden sich hier Eltern, weil sie fürchten, ihr Sohn oder ihre Tochter könnten in den "Heiligen Krieg" ziehen. Oder weil sie es bereits sind. Ein häufiges Muster: Monatelang radikalisieren sich die jungen Leute. Die Eltern realisieren erst spät, was los ist. Das hat auch mit den neuen Propagandatricks der Salafisten und Dschihadisten zu tun.

Die Anwerber des IS sind professionell, wie man an ihren Propagandavideos sieht. Deren Machart erinnert an Hollywood. Starke Bilder, untermalt von dschihadistischen Gesängen; Helden und Feinde sind klar zu erkennen. Grautöne gibt es nicht. Die Filme taugen besonders für junge Menschen. Immer häufiger sind es Minderjährige, die sich dem sogenannten Islamischen Staat anschließen. Etwa 40 Prozent unserer Beratungsfälle sind jünger als 18. Und die jungen Leute radikalisieren sich immer schneller.

Der IS könnte nicht so erfolgreich anwerben, wenn er sich nur auf Massenkommunikation verlassen würde. Die Dschihadisten suchen verstärkt die individuelle Ansprache. Wenn Teenager in sozialen Netzwerken Interesse an salafistischen Angeboten gezeigt haben, werden sie direkt angesprochen. Die Propaganda verlagert sich schnell in kleine Gruppen, etwa beim Chat-Dienst Whatsapp. Hier werden die Jugendlichen intensiv bearbeitet. Die Dschihadisten erzählen vom gläubigen Leben in Syrien oder Nordirak. Und sie reden viel vom Paradies. Es ist eine Mischung aus Zuneigung und Druck. Manchmal schicken sie innerhalb weniger Tage Tausende Nachrichten. Auf jedes Problem scheinen sie eine Antwort zu haben. Zudem entwickeln sie eine neue Sprache, mit der sie Jugendliche ansprechen. Eine Mischung aus Ghetto-Sprache und szenetypischen religiösen Begriffen. "Bruder, du wärst ein krasser Kämpfer, mashallah."

Noch vor einigen Jahren versuchten radikalisierte Jugendliche, in ihrem Umfeld zu missionieren. Sie warfen ihren Eltern vor, nicht nach den Regeln Gottes zu leben. Da kamen Sprüche wie "Ich will dich vor der Hölle retten." Das gibt es heute auch noch. Aber wir beobachten, dass eine andere Strategie zunimmt: Jugendliche werden in Chats aufgefordert, ihre wahre Einstellung geheim zu halten. Niemand soll wissen, was sie wirklich denken, nicht mal ihre Eltern. In extremen Fällen merken die erst, was los ist, wenn sie einen Abschiedsbrief finden. "Mama, Papa, wir sehen uns im Paradies. Macht euch keine Sorgen."

Radikalisierte Jugendliche verstellen sich kurz vor ihrer Reise in den Krieg

In anderen Fällen bemerken Eltern die Radikalisierung. Und irgendwann, vielleicht nach einem Dreivierteljahr, sagt das Kind, es sei wieder auf dem richtigen Weg, habe sich vom radikalen Glauben abgewendet. Die Jungen stutzen plötzlich wieder ihren Bart, die Mädchen wechseln ihren Kleidungsstil. Die Eltern glauben oft, dass wieder alles in Ordnung ist. In Wahrheit ist gerade dann höchste Vorsicht geboten, eine Ausreise könnte unmittelbar bevorstehen. Die IS-Anwerber sagen den Jugendlichen, sie sollen sich verstellen. Sie coachen sie bis zur Ausreise. Nicht zu viel Geld abheben, das könnte auffallen. Welchen Zug nehme ich? Welcher Flug ist der beste?

Das stellt Eltern und Berater vor neue Herausforderungen. Wir müssen noch wachsamer sein. Wir raten Eltern, lieber einmal zu viel bei uns anzurufen. Meistens sind es die Mütter, die sich bei uns melden. Immer häufiger aber auch Lehrer oder Sozialarbeiter. Seit 2012 haben sich 1700-mal Ratsuchende an uns gewandt. Im ersten Halbjahr 2015 hatten wir doppelt so viele Anfragen wie im Vorjahreszeitraum. Später werden die Familien von Trägern der Zivilgesellschaft beraten. Sie bauen einen engen Kontakt zur Familie auf, besuchen sie zu Hause und geben Tipps, wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wieder aufgebaut werden kann Wir merken, dass die Eltern überfordert sind mit der Situation. Das ist kein Wunder, niemand kann emotionslos zusehen, wie sich die Kinder hineinsteigern in eine extremistische Gedankenwelt. Eltern sollten sich oft mehr für den Alltag ihrer Kinder interessieren. Oft wissen Eltern nicht mal, welche Bücher das Kind im Regal hat, womit es sich beschäftigt. Es ist wichtig, dass die Eltern auf ihre Söhne und Töchter zugehen, wenn sie Veränderungen in deren Lebensstil feststellen. Hauptsache, man zeigt, dass man sein Kind ernst nimmt. Wir raten den Eltern auch, dass sie einen Blick auf die Profile ihrer Kinder in sozialen Netzwerken werfen sollen. Aber die versuchen, bewusst zu täuschen. Viele Jugendliche haben mehrere Seiten bei Facebook, ein Vorzeigeprofil und ein salafistisches. Oder sie sind bei sozialen Netzwerken aktiv, die ihre Eltern nicht kennen. Die neue Entwicklung birgt auch Chancen. Experten können das religiöse Pseudowissen der Kinder recht schnell entlarven. Je früher man eine Radikalisierung bemerkt, desto besser kann man reagieren. In den meisten Fällen versuchen wir, die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern zu reparieren. Hinter vermeintlich religiösen Konflikten stecken oft klassische Familienprobleme. Ein Vater, der nicht für seine Kinder da ist, zum Beispiel. Deshalb sind bei Weitem nicht nur muslimische Familien betroffen.

Wenn Familien zusammenhalten und richtig handeln, können sie verhindern, dass ihre Kinder Kanonenfutter werden. Kürzlich hatten wir so einen Fall. Ein junges Mädchen war in die Türkei ausgereist, wollte von da weiter nach Syrien, um die Zweitfrau eines Dschihadisten zu werden. Die Erstfrau hatte es über Facebook angelockt. Die junge Frau hat nach der Schule keinen Ausbildungsplatz gefunden, sie hatte das Gefühl, wegen ihres Kopftuchs diskriminiert zu werden. Die Salafisten wussten das propagandistisch auszunutzen und zogen sie in ihre Kreise. Sie sagten ihr, sie werde wegen ihrer Religion benachteiligt. In Syrien könne sie als Muslima frei leben. Ihr Onkel meldete sich bei uns, als er von der Ausreise des Mädchens hörte.

Bei den Beratungsgesprächen war die ganze Familie versammelt, alle haben gemeinsam überlegt, was sie tun können. Irgendwann meldete sich das Mädchen bei einem seiner Brüder. Offensichtlich war das Leben im türkisch-syrischen Grenzgebiet nicht so schön, wie es sich erhofft hatte. Der Bruder reagierte richtig: Er machte ihm am Telefon keine Vorwürfe, er freute sich einfach, dass er die Stimme der Schwester hörte. Sie meldete sich fortan immer häufiger, zudem verzögerte sich die Hochzeit mit dem Dschihadisten. Nach einigen Wochen war sie bereit zurückzukehren. Und als sie hier war, kümmerten sich Verwandte und Moscheegemeinde um sie. Mittlerweile hat sie eine Lehrstelle. Mit Salafisten will sie nichts mehr zu tun haben.

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