Außenansicht:Vorsicht vor Kriegen aus Versehen

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Eine Lehre aus der Geschichte: Oft beginnen verheerende militärische Konflikte aus Zufall.

Von Jörg Link

Jüngst ist es an unterschiedlichen Orten der Welt zur risikoreichen Konfrontation von Militärflugzeugen und -schiffen gekommen: über der Ostsee, in Syrien und im Südchinesischen Meer. Zwischen Nord- und Südkorea gab es sogar mehrmals bewaffnete Auseinandersetzungen mit Todesopfern, in Syrien wurde eine russische Militärmaschine abgeschossen. Im Ostchinesischen Meer verhängte China eine Luftverteidigungszone über einem umstrittenen Gebiet, die dann bewusst von amerikanischen Bombern und japanischen und südkoreanischen Kampfflugzeugen verletzt wurde.

Durch die kategorische Zurückweisung der weitreichenden chinesischen Ansprüche auf das Südchinesische Meer durch den Schiedshof in Den Haag ist nun die Reaktion Chinas schwer kalkulierbar geworden. In Anbetracht des Machtanspruches Chinas kann es in der Folge des Schiedsspruches zu Zwischenfällen mit hohem Eskalationspotenzial kommen. Bereits im März haben die Vereinigten Staaten einen Flugzeugträger samt Kampfgruppe in das Südchinesische Meer entsandt. Mit demonstrativen Passagen durch umstrittene Seegebiete und unmissverständliche Warnungen an China unterstrichen die USA, dass sie zur Offenhaltung internationaler Gewässer entschlossen sind. Der amerikanische Verteidigungsminister warnte China vor Fehlkalkulationen: "Konkrete Taten werden konkrete Folgen haben". Eine krisenhafte Zuspitzung im Südchinesischen Meer ist jederzeit möglich. Die Folgen eines militärischen Konfliktes zwischen China und den Vereinigten Staaten wären kaum absehbar.

Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass Kriege immer den Absichten und zielgerichteten Handlungen entschlossener Akteure entspringen. Nur im Nachhinein hat geschichtliches Geschehen den Anschein von etwas Logischem, Unausweichlichem. Im Bewusstsein der Menschen gibt es offensichtlich eine Macht des Faktischen auch dergestalt, dass man einer Entwicklung im Nachhinein Zwangsläufigkeit und Sinn zubilligt. In Wirklichkeit kann der Zufall die maßgebliche Rolle spielen.

Folgt man neueren Forschungen zum Ersten Weltkrieg, so war dessen Ausbruch keinesfalls unvermeidlich. Mindestens an zwei Tagen (28. Juni sowie 28. Juli 1914) spielte der Zufall eine verhängnisvolle Rolle. Am 28. Juni kommt der Attentäter in Sarajevo nur deshalb zum Zuge, weil die Autokolonne des österreichischen Erzherzogs zufällig genau an der Stelle anhält, an der Gavrilo Princip wartet. Er zieht seine Pistole und trifft den Erzherzog und seine Frau tödlich. Und am 28. Juli liest Wilhelm II. nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub die serbische Antwort auf das österreichische Ultimatum und hält schriftlich fest: "Damit fällt jeder Kriegsgrund fort". Er informiert die politische und militärische Führung entsprechend, verzichtet aber auf die Durchsetzung seines Meinungswandels. So kommt es, dass am gleichen Tag Österreich Serbien den Krieg erklärt.

Durch den Machtanspruch Chinas ist die Lage in Asien hochgefährlich geworden

Das Argument, es wäre früher oder später unvermeidlich doch noch zum Ausbruch des Krieges gekommen, ist strittig. Unzweifelhaft ist allerdings, dass der böse Zufall eine umso größere Chance hat, je mehr Spannungen vorher aufgebaut wurden. Je mehr es also auch die Politik zu Situationen hat kommen lassen, in denen es Spitz auf Knopf steht, umso größer ist die Möglichkeit des Zufalls.

Besonders deutlich wurde dies in der Kubakrise 1962. Die Spannungen um Kuba hatten sich über Jahre aufgebaut; sie kulminierten in der geheimen Stationierung sowjetischer Atomraketen auf der Insel. Die USA errichteten als Reaktion eine Seeblockade. Dann der 27. Oktober 1962: In den Gewässern um Kuba wird das sowjetische U-Boot B-5 von einem amerikanischen Zerstörer mit Wasserbomben angegriffen. Die Besatzung wird von den Detonationen so sehr durchgeschüttelt und psychisch unter Druck gesetzt, dass die Offiziere den Einsatz der äußersten Mittel erwägen. Neben 21 konventionellen Torpedos verfügt B-59 über einen Nukleartorpedo, der fast die Sprengkraft der Hiroshimabombe hat. Der Kommandant lässt diesen Torpedo zum Abschuss vorbereiten. Es besteht Unsicherheit, ob nicht der Krieg bereits begonnen hat.

Da das Boot keine Funkverbindung zu vorgesetzten Kommandostellen hat, folgt eine intensive Auseinandersetzung zwischen den Offizieren, von deren Entscheidung nun alles abhängt. Am Ende wird der Nukleartorpedo doch nicht abgeschossen. Was bei einem atomaren Angriff des sowjetischen U-Bootes auf die vier US-Kriegsschiffe als Folge zu erwarten gewesen wäre, liegt auf der Hand. Der amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara sollte später sagen: "Am Ende hatten wir einfach Glück. Nur durch Glück wurde ein Atomkrieg verhindert.

Ursache dieser gefährlichen Zuspitzung war die Fehleinschätzung der sowjetischen Führung, die glaubte, mit ihrem Konfrontationskurs gegenüber den USA durchzukommen. Und heute? Es ist zu befürchten, dass sich bei der chinesischen Führung über die Jahrzehnte hinweg ein nachhaltiger Realitätsverlust bezüglich der Situation im Südchinesischen Meer entwickelt hat. Ihr Konstrukt von den "historischen Rechten" Chinas prallt diametral auf das Urteil des Haager Schiedshofes, welches nicht den geringsten Zweifel daran lässt, dass die chinesischen Ansprüche auf 80 Prozent des Südchinesischen Meeres keine rechtliche Basis haben.

China hat bereits vor dem Schiedsspruch angekündigt, dass es das Urteil nicht anerkennen wird. Es könnte also versucht sein, seine Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen. Dies aber wird unweigerlich nicht nur zu Zwischenfällen mit den Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres, sondern auch mit den USA führen. Durch das Südchinesische Meer wird etwa ein Drittel des Welthandels abgewickelt, und es geht um die am schnellsten wachsende Wirtschaftsregion der Welt.

Eine Militärmacht wie die USA mit ihrem globalen Führungsanspruch, mit ihrer Funktion als Quasi-Schutzmacht für viele Anrainer des Südchinesischen Meeres und mit ihrer Übermacht und Omnipräsenz an Flugzeugträgern wird eine solche Verletzung internationalen Rechts und Gefährdung unverzichtbarer Handelswege nicht hinnehmen. Sollte also China Luftraumüberwachungszonen oder Sperrzonen auf dem Meer einrichten, werden die USA - wie schon gelegentlich bisher - diese Zonen missachten. Damit aber sind Beinahe-Zwischenfälle programmiert. Das typische an solchen Beinahe-Zwischenfällen ist, dass daraus jederzeit massive militärische Konfrontationen werden können. Der Zufall spielt dabei eine entscheidende Rolle, wie die Geschichte lehrt.

© SZ vom 18.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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