Außenansicht:Tod eines Mutigen

Lesezeit: 4 min

Vor 40 Jahren verbrannte sich Pfarrer Oskar Brüsewitz, um gegen das SED-Regime ein Zeichen zu setzen.

Von Hedwig Richter

Vor fast genau 40 Jahren, am 18. August 1976, setzte sich Pfarrer Oskar Brüsewitz selbst in Brand. In der Fußgängerzone von Zeitz im heutigen Sachsen-Anhalt platzierte er zwei Banner mit der Aufschrift: "Funkspruch an alle . . . Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen". Dann übergoss er sich mit Benzin und zündete sich an. Ein Volkspolizist eilte herbei - und konfiszierte anschließend die Plakate. Im Krankenhaus wurde Brüsewitz von den Ärzten und der Staatssicherheit rund um die Uhr überwacht. Seine Familie durfte ihn nicht besuchen, obwohl er noch vier Tage lebte. In einem zuvor verfassten Abschiedsbrief hatte der 47-Jährige erklärt: Er wolle ein Zeichen setzen gegen die Lüge und den "scheinbar tiefen Frieden". Heute, fast 26 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist er beinahe vergessen. Es ist Zeit, sich seiner zu erinnern.

Ein Zeichen zu setzen war Brüsewitz zweifellos gelungen. Bei den staatlichen Stellen und der Kirchenleitung herrschte Entsetzen. Die Kirchenführer sorgten sich um zu viel Öffentlichkeit und wollten alles vermeiden, was nach einer Provokation des Staates aussah. Sie trafen sich umgehend mit staatlichen Vertretern, um die Geschichte geheim zu halten. Doch trotz allen Bemühens drang die Kunde von Brüsewitz in den Westen, wo die Medien ausführlich über ihn informierten. Seine Tat und die prekäre Situation der Kirchen in der DDR kamen so in die Öffentlichkeit.

Die Mitglieder der Ost-CDU bemühten sich eifrig, an der kirchlichen Basis "den Fall Brüsewitz abzuwenden". Doch umsonst, viele Christen nutzten die Chance, wie die Berichte der Staatssicherheit auf Kreis- und Bezirksebene verzeichneten, und beschwerten sich plötzlich über die alltägliche Diskriminierung ihrer Kinder. Die zuständige Leitung der Kirchenprovinz Sachsen aber rang sich nur zu einem sehr zaghaften Brief an die Gemeinden durch, in dem sie nicht vergaß, jeden Versuch zurückzuweisen, der "das Geschehen in Zeitz zur Propaganda gegen die Deutsche Demokratische Republik" benutzen sollte. Viele Gemeindemitglieder und Pfarrer waren empört über so viel kläglichen Gehorsam.

Doch die Kirchenleitung hatte nicht viele Optionen und fühlte sich zu ihrem vorsichtigen Kurs gezwungen. Das lag vor allem daran, dass die Mehrheit ihrer Mitglieder dem staatlichen Druck selbst nicht standhielt, und lieber aus der Kirche austrat, als Karriere oder die Ausbildung der Kinder zu gefährden. Tatsächlich war die christliche Basis auch im Fall Brüsewitz wenig mutig gewesen: Die Gemeindemitglieder, die anfangs in Scharen in Brüsewitz' originelle Gottesdienste geströmt waren, ließen ihn allein, als sie den staatlichen Gegenwind spürten. Und nach seinem Tod mieden sie ängstlich seine streng überwachte Familie.

Der Sozialismus gehörte für ihn ins Reich der Finsternis

Von den meisten Nichtchristen ganz zu schweigen, die nach Berichten von Informanten die Verleumdungen bereitwillig glaubten, mit denen die Ost-Presse den Pfarrer postum überzog - und überhaupt wenig Verständnis hatten, dass einer so ganz anders war und aus der Reihe tanzte. Eine Mischung aus Gleichgültigkeit, Herdentrieb und Gehorsam prägte das Klima. Václav Havel, der Dissident und spätere tschechische Staatspräsident, erkannte diese Mehrheitsmentalität als eines der Grundübel in den sozialistischen Ländern und schrieb in den 1970er-Jahren: "So ist jeder Mensch zugleich Stützpfeiler und Opfer des Regimes, der Scheinwirklichkeit."

Unterordnung war Oskar Brüsewitz' Sache nicht. Von Haus aus Schuhmacher, bereitete ihm die späte theologische Ausbildung große Mühe. Freude hingegen hatte er an seiner kleinen Landwirtschaft auf dem Pfarrhof, die ihm Anschauung für seine Predigten bot, und mit deren Erträgen er sozial schwachen Familien half. Brüsewitz nahm die Bibel beim Wort, teilte die Welt ein in Hell und Dunkel, Gut und Böse - einen Fundamentalisten würde man ihn heute nennen. Dieser Mann schlug alle Vorsicht in den Wind und verwies mit wunderlichen Aktionen auf den alltäglichen Aberwitz des SED-Regimes, mit dem sich die anderen murrend abgefunden hatten. Brüsewitz schuf Öffentlichkeit - was ihn besonders gefährlich machte. Er stellte eine überdimensionale Vitrine auf gegen die staatliche Dominanz und mit dem Spruch: "Jesus Christus spricht: Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige", daneben zog auf einem Plattenspieler ein Globus seine Kreise. Der Pfarrer befestigte an seinem Kirchturm ein Neon-Kreuz, das weit über die vorbeiführende Fernstraße leuchtete. Auf der Kanzel erhob er das Wort gegen die Machthaber. Brüsewitz ordnete sich nicht in die Scheinwelt ein: Zu den unsinnigen Wahlen erschien er allenfalls, um dem verblüfften Wahlvolk zuzurufen: "Ich habe schon gewählt, nämlich Jesus Christus!"

Vor allem stellte sich Brüsewitz gegen den staatlichen Anspruch auf die Jugend. Er startete ein Gegenprogramm, baute einen Spielplatz, veranstaltete Feste mit bis zu 400 Kindern. Der Sozialismus gehörte für ihn ins Reich der Finsternis, weil er Jugendliche von der Kirche abtrünnig machte oder, wenn das nicht gelang, diskriminierte. Wie seine Tochter, die das beste Abschlusszeugnis im Kreis vorweisen konnte und doch kein Abitur machen durfte. Stattdessen teilten die Behörden das zierliche Mädchen zu einer Lehre als Gleisbauarbeiterin ein.

Gestört durch Brüsewitz' Engagement für Kinder und Kirche drangsalierten ihn die Funktionäre immer mehr - seine Scheune brannte auf mysteriöse Weise ab, er bekam abwegige Ordnungsstrafen und anonyme Briefe. Und zunehmend blieben seine Gemeindemitglieder auf Distanz zu dem auffälligen Mann. Als er schließlich das Gefühl bekam, auch von der Kirchenleitung verlassen zu sein, die ihn mahnte, mit seinen Provokationen doch aufzuhören, den staatlichen Stellen nachzugeben und seine Kirchengemeinde zu wechseln - da setzte er sich in Brand, voller Verzweiflung und zugleich voller Gottvertrauen.

"Ja, willst du denn unter den Toten Wunder tun?", zitierte Wolf Biermann in einem Konzert in Ostberlin kurz nach der Selbstverbrennung den 88. Psalm - und alle wussten, worauf er anspielte. Doch auch wenn Brüsewitz gern als Vorkämpfer der friedlichen Revolution gesehen wird - die Wunder ließen auf sich warten. Wenige Monate nach der Selbstverbrennung hieß es in einem Bericht von Informanten, auch bei den Christen könne "bis auf wenige Ausnahmen der Fall Brüsewitz als abgeschlossen gelten". Die Bürgerinnen und Bürger funktionierten noch weitere 13 Jahre in der Diktatur. Biermann wurde ausgebürgert, Brüsewitz bald vergessen.

© SZ vom 16.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: