"Islamischer Staat":Je mehr sich der IS organisiert, desto verwundbarer wird er

"Islamischer Staat": Ein Screenshot von einer Propaganda-Website des IS zeigt, wie ein Mitglied der Exekutive vor einer Menschenmenge in Rakka ein Gerichtsurteil verkündet

Ein Screenshot von einer Propaganda-Website des IS zeigt, wie ein Mitglied der Exekutive vor einer Menschenmenge in Rakka ein Gerichtsurteil verkündet

(Foto: AP)

Organisationen wie der "Islamische Staat" werden mit der Zeit zwangsläufig bürokratisch. Ein Glück - so lassen sie sich leichter bekämpfen.

Von Stefan Kühl

Die Selbstbezeichnung der islamistischen Extremisten in Syrien und im Irak als "Islamischer Staat" ist in die westliche Berichterstattung eingegangen. Der Fokus ist dabei auf ein dschihadistisches Projekt der Staatsbildung gerichtet, dessen Werte auch für Islamisten aus anderen Teilen der Welt interessant zu sein scheinen. Sie führen deswegen auch zu einer Radikalisierung von Islamisten außerhalb Syriens und des Irak.

Bei der Diskussion über die Staatlichkeit des Dschihadismus wird jedoch ein Aspekt übersehen, der für die Bekämpfung des islamistischen Terrors in Europa zentraler ist: die zunehmende "Verorganisierung" der islamistischen Bewegung.

Kreis der Mitglieder ist bei Bewegungen schwer zu definieren

Aus einer soziologischen Perspektive ist der Islamismus zunächst einmal nichts anderes als der typische Fall einer sozialen Bewegung. Politische und religiöse Bewegungen orientieren sich an Werten, die sich zur Mobilisierung von Bevölkerungsteilen eignen. Das können Werte sein wie Frieden, Umweltschutz oder Gleichberechtigung, es können aber auch Werte wie Rassereinheit, nationale Identität oder die weltweite Durchsetzung des "wahren" islamischen oder auch christlichen Glaubens sein.

Im Gegensatz zu Organisationen fällt es bei Bewegungen schwer, den Kreis der Mitglieder genau zu definieren. Während es in Verwaltungen, Unternehmen oder Armeen leicht zu erkennen ist, welche Menschen Mitglieder sind, ist es bei der Friedensbewegung, der Frauenbewegung, der evangelikalen Bewegung oder eben der islamistischen Bewegung schwerer, zu bestimmen, wer dazugehört und wer nicht. Man kann zwar grob zwischen Aktivisten und Sympathisanten unterscheiden, aber es ist nicht nur für Sicherheitskräfte, sondern oft auch für die jeweilige Bewegung selbst nur schwer zur erkennen, wo genau die Grenze zwischen diesen beiden Gruppen verläuft.

Persönliche Bindungen für Mobilisierung wichtig

Die mobilisierenden Werte allein erzeugen noch keine starke Bindung; diese entsteht in Bewegungen oftmals erst auf der Grundlage von Gruppen, die sich durch persönliche Kontakte bilden. Wir wissen aus Studien über die Friedensbewegung, wie wichtig solche häufig durch die "gemeinsame Sache" initiierten Freundeskreise waren, um eine hohe Sichtbarkeit der jeweiligen Bewegung zu erreichen.

Und auch bei einer ganzen Reihe der islamistischen Terroranschläge ist deutlich geworden, wie stark die Umsetzung von Erwartungen - sie sind die ja im Fall von Selbstmordattentaten für die Attentäter mit radikalen Konsequenzen verbunden - auf persönlich und familiär verdichteter Erwartungsbildung basiert.

Adressen für Geld und Waffen haben nur Organisationen

Aus dieser Perspektive mögen sich die islamistische Bewegung, Pegida oder die sowohl gegen den Islamismus als auch gegen Pegida protestierende antirassistische Bewegung in ihrer Ideologie unterscheiden, von ihrer Struktur her sind sie sich nicht unähnlich. Welche Erkenntnisse kann man gewinnen, wenn man den Islamismus als soziale Bewegung begreift? Wie auch bei anderen Bewegungen, ist bei der islamistischen Bewegung eine zunehmende "Verorganisierung" beobachten.

Der erste Schub für die Veränderung der islamistischen Bewegung wurde durch externe militärische oder finanzielle Unterstützung ausgelöst. Für die Lieferung von Waffen und Geld braucht man Adressen, und darüber verfügen nur Organisationen.

Man konnte eine solche Verorganisierung in Afghanistan beobachten, als die Vereinigten Staaten während des sowjetisch-afghanischen Krieges Islamisten militärisch unterstützten und so letztlich die Ausbildung der Al-Qaida-Organisation beförderten. Und ein ähnliche Prozess spielt sich jetzt auch im Fall der islamistischen Bewegung ab, die allein schon deswegen eine Organisation braucht, um das Geld aus Saudi-Arabien und Katar sowie aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kuwait empfangen und verteilen zu können.

Erfahrene Parteifunktionäre bauten den IS auf

Die zweite Entwicklung, die die Ausbildung einer islamistischen Organisation befördert, ist der Kontakt der eher in kleinen Grüppchen organisierten europäischen Islamisten mit einer schlagkräftigen Organisation im Irak. Wir wissen inzwischen, dass ehemalige Offiziere des irakischen Geheimdienstes und der Streitkräfte sowie ehemalige Funktionäre der Baath-Partei Saddam Husseins das Rückgrat des IS bilden.

Weil die von den USA geführten Streitkräfte nach dem Sturz von Saddam Hussein die bestehenden staatlichen Strukturen im Irak zerschlagen hatten, nutzten die ehemaligen Nutznießer des irakischen Regimes den Islamismus, um ihren Widerstand zu formieren. Aufgrund seiner Erfahrungen in Parteiarbeit, Verwaltung und Armee war dieser Kreis sehr schnell in der Lage, eine handlungsfähige Organisation aufzubauen, in die Rekruten aus anderen Ländern integriert werden konnten.

Bürokratisierung in den besetzten Gebieten

Der dritte Effekt für die Organisationsbildung war die Entstehung eines islamistischen Protostaates in Ostsyrien und im Westirak. Auch wenn es der Ideologie von Bewegungen widerspricht, so können Staaten nicht ohne Organisation auskommen. In dem vom IS kontrollierten Gebiet haben sich deshalb schnell eigene Organisationen für die innere Sicherheit, für die Rechtsprechung, für die soziale Hilfe und für die Erziehung gebildet. In der Forschung ist bereits von deutlich erkennbaren Bürokratisierungseffekten in dem vom IS kontrollierten Gebiet die Rede.

Inzwischen kann man erste ungewollte Nebenfolgen der Organisationswerdung beobachten. Der Zweck - die Durchsetzung des Islams mit Hilfe des Dschihad - hat allein nicht mehr genug Strahlkraft, um Nachwuchs zu rekrutieren. Auch wenn die Propaganda-Videos des IS immer noch das Opfer für die islamische Sache in den Mittelpunkt stellen, scheinen inzwischen andere Motive für die IS-Rekruten immer wichtiger zu werden. Den IS-Kämpfern werden Wohnungen, Bezahlung und Frauen in Aussicht gestellt.

Mit dem Islam hat das nicht mehr viel zu tun, aber Bewegungsorganisationen müssen solche Gegensätze zwischen den eigenen Zwecken und den Motiven ihrer Mitglieder dulden, häufig sogar fördern.

Organisationen sind weniger attraktiv als Bewegungen

Der Islamismus gerät immer mehr in ein Dilemma, in dem andere soziale Bewegungen unter ihren Voraussetzungen auch stecken. Wenn er sich nicht zu einer Organisation entwickelt, dann läuft er Gefahr, zu zerbröckeln und dann vernichtet zu werden, weil sich besetzte Gebiete in der Form einer Bewegung nicht halten lassen.

Wenn Bewegungen jedoch immer mehr zu Organisationen werden, dann verlieren sie nicht nur die für die Bewegungsmitglieder ursprünglich attraktive Besonderheit. Sondern die islamistischen Organisationen lassen sich dann auch vergleichsweise gut bekämpfen. Schließlich haben sie dann eine,‒ wenn auch nicht immer leicht feststellbare Adresse.

Stefan Kühl

Stefan Kühl, 49, ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Von ihm ist vor Kurzem erschienen: "Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust" (Suhrkamp 2014).

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