Außenansicht:Stückwerk ist gut

Außenansicht: Georg Cremer, 65, war von 2000 bis Juni 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes.

Georg Cremer, 65, war von 2000 bis Juni 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes.

(Foto: Privat)

Überzogene Kritik am Sozialstaat weckt übertriebene Erwartungen und fördert den Rechtspopulismus.

Von Georg Cremer

Mit der AfD hat sich eine rechtspopulistische Kraft auf Bundesebene etablieren können. An schnellen Erklärungen dafür herrscht kein Mangel: Es seien besonders die "Abgehängten", die die AfD stark machten, heißt es. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sieht in der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und der dadurch bedingten gesellschaftlichen Polarisierung den entscheidenden Grund für den Rechtsruck. Die Vorsitzende der Linken, Katja Kipping, fordert, die "Politik der sozialen Verunsicherung" zu beenden. Und der Publizist Stephan Hebel schreibt in den Blättern für Deutsche und Internationale Politik: Der Populismus komme aus der sozialen Kälte. Durch "ihr unbeirrbares, ja unbelehrbares Festhalten am neoliberalen Modell" sei Angela Merkel zur "Geburtshelferin der AfD" geworden.

Aber was taugen diese Erklärungen? Die gemessene Einkommensverteilung in Deutschland hat sich seit 2005 nicht wesentlich verändert. Damit muss man sich keineswegs zufriedengeben. Nur lässt sich die tektonische Verschiebung im Parteiengefüge so eben nicht erklären. Auch sind es keineswegs allein die Abgehängten, die AfD wählen, wie das DIW ermittelt hat. Zwar sind AfD-Anhänger (ebenso wie jene der Linken) häufiger mit ihrer materiellen Situation unzufrieden als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Aber ihr durchschnittliches Nettohaushaltseinkommen liegt mit etwas über 2 900 Euro nur um etwa 160 Euro unter dem der Gesamtbevölkerung. Da überdurchschnittlich viele Arbeiter von der AfD erreicht werden, weisen ihre Anhänger unterdurchschnittliche Stundenverdienste aus, aber immerhin bewerte mehr als 50 Prozent der AfD-Anhänger ihre materielle Situation als gut oder sehr gut. Fast drei Viertel haben Lehre, Fachschule oder den Meisterabschluss, ein knappes Fünftel einen Fach- oder Hochschulabschluss. Eine signifikant höhere Angst um ihren Arbeitsplatz haben sie auch nicht. Materielle Aspekte allein können also ihre Parteipräferenz nicht erklären.

Ein weit überdurchschnittlicher Anteil der AfD-Anhänger lebt in kleinen Gemeinden; dies könnte darauf hindeuten, dass sich viele Sorgen um die Zukunft des ländlichen Raums machen. Bei ihren statistisch erfassten "großen Sorgen" dominieren jedoch "Zuwanderung nach Deutschland" (82 Prozent) und "Entwicklung der Kriminalität" (71 Prozent). Hier unterscheidet sich das Profil der AfD-Anhänger von den Anhängern anderer Parteien radikal.

Die SPD setzte den Mindestlohn durch - bei den Wahlen hat ihr das nichts genützt

Die These, der Populismus komme aus der sozialen Kälte, ist auch noch aus einem anderen Grunde schräg: Den behaupteten radikalen Sozialstaatsabbau hat es nie gegeben. Es gab mehr oder weniger erfolgreiche Bemühungen, die finanzielle Nachhaltigkeit des Sozialsystems zu sichern. Neoliberale Konzepte gegen die Mitte der Gesellschaft können nur Erfolg haben, wenn Politiker und Bevölkerung die Folgen nicht durchschauen. So war dies bei der Deregulierung der Finanzmärkte mit ihren teuren Folgen. Sozialstaatsabbau ist in Deutschland - zum Glück - demokratisch nicht durchsetzbar. Der Sozialstaat wurde an vielen Stellen ausgebaut, wie die wachsende Zahl der Mitarbeitenden der Wohlfahrtsverbände zeigt, die in Altenpflege, Kitas und anderen Hilfefeldern tätig sind. Deren Gehälter fallen nicht vom Himmel, sondern werden überwiegend aus den Kassen des Sozialstaats finanziert.

Die große Koalition war sozialpolitisch nicht untätig. Nur der Mindestlohn hat es geschafft, ins breitere öffentliche Bewusstsein vorzudringen. Für die SPD, die ihn durchsetzte, hat er sich dennoch nicht ausgezahlt. Die Ausweitung der Mütterrente ist nahezu vergessen. Anderes wurde kaum beachtet: Der Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wird jetzt unbefristet bis zum 18. Geburtstag des Kindes bezahlt. Bei der Sozialhilfe ist der Freibetrag für Vermögen von 2600 auf 5000 Euro angehoben worden. Die Behindertenhilfe ist deutlich verbessert worden, was das Schonvermögen und die Anrechnung des Einkommens der behinderten Person betrifft; vor allem wird künftig das Einkommen des Partners nicht mehr herangezogen. Für behinderte Menschen, die heiraten wollen, war das bisher ein massives Hindernis. Bei der Grundsicherung im Alter gibt es nun Freibeträge für Betriebs- und Riesterrenten: Wer trotz Niedriglohns mühsam privat vorsorgt, hat jetzt im Alter endlich mehr Geld als jene, die es nicht tun (eine Regelung die allerdings dringend auf die gesetzliche Rente ausgeweitet werden muss). Was die Koalition tat, deckte sich mit seit Langem erhobenen Forderungen aus den Sozialverbänden. Wenn es dann allerdings erreicht wurde, ist es plötzlich nicht mehr der Rede wert. Es wird als Klein-Klein diskreditiert oder schlicht nicht wahrgenommen. Das ist ein massives Problem in der Auseinandersetzung mit populistischen Kräften. Teil ihrer Mobilisierung ist die Verleumdung, die Politik würde sich um "Belange des Volkes" nicht kümmern.

Wir müssen über Gerechtigkeit und soziale Sicherung in einer Weise sprechen, die auch anerkennt, was erreicht wurde. Im komplexen System des deutschen Sozialstaats kann eine Politik, die den Menschen dient, nur als Stückwerk gelingen. Hier täte der Sozialpolitik und ihren kritischen Begleitern eine Anleihe bei Karl Popper gut, dem Verteidiger der offenen Gesellschaft. Eine Politik des Stückwerks verspricht nicht völlig andere Verhältnisse, sondern realisierbare Schritte zur Lösung konkreter Probleme.

Den sozialen Problemen wird sich auch eine Jamaika-Koalition stellen. Zwischen den sozialpolitischen Programmen von CDU, CSU, FDP und Grünen gibt es durchaus Schnittmengen. Zum Beispiel wollte schon die 2009 gebildete schwarz-gelbe Koalition mit dem Gerechtigkeitsdefizit Schluss machen, das darin besteht, dass die Lebensleistung derjenigen, die langjährig im Niedriglohnsektor gearbeitet haben, im Alter nicht anerkannt wird. Hieran kann Jamaika anknüpfen. Der an sich starke Sozialstaat in Deutschland ist ungenügend auf die Prävention sozialer Notlagen ausgerichtet. Eine stärkere Orientierung am Leitbild der Befähigungsgerechtigkeit könnte für alle Kräfte der Koalition ein attraktives Ziel sein. Der Fokus auf Befähigung ist kein Widerspruch zur Umverteilung im Sozialstaat, sondern hilft, dessen Nachhaltigkeit zu sichern und schafft Perspektiven für ein gelingendes Leben. Stellt man sich den Problemen, so gibt es unendlich viel zu tun. Sozialpolitik braucht Unterstützer, die die Politik des Stückwerks anerkennen und wertschätzen. Sonst werden Erwartungen erzeugt, denen niemand genügen kann. Und weitere Unzufriedenheit, die populistischen Kräften nützt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: