Außenansicht:Rendezvous der Kontinente

Spain's Foreign Minister Moratinos and France's Foreign Minister Kouchner attend a news conference in Amman

Miguel Ángel Moratinos, 64, war Spaniens Außenminister. Heute leitet er den Beirat eines Thinktanks für die Politik der Mittelmeeranrainer, Ipemed. Übers.: I. Pfaff.

(Foto: Majed Jaber/Reuters)

Wenn Afrika und Europa wirtschaftlich enger kooperieren, stärkt das beide.

Von Miguel Ángel Moratinos

Europas südliche Nachbarschaft - also der Maghreb sowie Afrika südlich der Sahara - gleicht einem ausbrechenden Vulkan. Religionen, deren Angehörige sich bekämpfen, Staaten, die zusammenbrechen, Terroristen, die von einem Land ins andere ziehen, Kriege und Aufstände, die die Menschen in die Flucht treiben. Und doch: Es gibt nicht nur schlechte Nachrichten. Positive Trends sind gerade im Gange, sie machen Hoffnung auf ein neues Zusammenrücken zwischen Nord und Süd.

Am 10. und 11. November wird auf Malta der nächste Gipfel zwischen der Europäischen Union und den Staaten Afrikas stattfinden. Er sollte sich nicht nur den drängenden Fragen von Flucht und Einwanderung widmen. Es lohnt sich weiter zu gehen. Er sollte den Grundstein legen für einen neuen Pakt zwischen Europa, dem Mittelmeer und Afrika. Die Voraussetzungen dafür sind trotz mancher Schreckensnachrichten aus dem Maghreb oder aus Zentralafrika günstig: Angesichts der Migrationsströme entdecken europäische Politiker gerade "ihren Süden" wieder - und damit auch jene Werte Europas, die in der Bevölkerung des Südens gerade besondere Anziehungskraft entfalten.

Wir beginnen langsam zu verstehen, dass Europa seine Probleme in den Bereichen Demografie, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlfahrt nicht alleine wird lösen können - nicht ohne eine enge Zusammenarbeit mit den südlichen Mittelmeerstaaten und letztlich auch mit Afrika südlich der Sahara. Die Region zieht zunehmend Investoren an; unter den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften 2014 sind fünf afrikanische Staaten.

Die geografische und kulturelle Nähe zwischen Menschen aus Europa und Afrika, deren Biografien infolge von Kolonisierung, Dekolonisierung und Befreiungskriegen vielfach verschlungen sind, die manchmal eifersüchtig aufeinander sind, sich aber doch respektieren und mögen, ist eine wertvolle Ressource. Wertvoll sind auch die vielen jungen Menschen in den südlichen Ländern, die engagierten Frauen und innovativen Unternehmer, die für ihre Emanzipation kämpfen - und für eine Anbindung an Europa. Die kurzfristigen Bilder der aktuellen Umbrüche mögen Angst machen. Doch es ist ermutigend, dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird: Auf lange Sicht betrachtet ist hier "das Rendezvous der Zivilisationen" am Werk, um es mit den Worten des französischen Historikers Emmanuel Todd zu beschreiben.

Ein Forum nach dem Vorbild von Asean könnte den Kapitalfluss erleichtern

In der aktuellen Gemengelage sind zwei Szenarien möglich: Im ersten bleibt eine koordinierte und ambitionierte Reaktion Europas auf die Zustände im Süden aus. Eine "Jeder für sich"-Mentalität setzt sich durch. Furcht greift um sich. Den politisch Verantwortlichen fehlt der Mut, eine Vision für die Zukunft zu entwerfen; Intellektuelle nehmen an der Debatte nicht teil. Europa macht sich zur Festung und wird alt. Ökonomische Stagnation führt zu Armut. Populistische Bewegungen erringen Mehrheiten, die Europäische Union beginnt zu zerfallen. Afrika wird geplündert, und die arabische Welt muss mitansehen, wie die sinkenden Öl- und Gaseinnahmen die Existenz ihrer Staaten bedrohen.

Im zweiten Szenario schlägt die Europäische Union ihren südlichen Nachbarn einen neuen Pakt vor: die nächste Seite der gemeinsamen Geschichte zusammen zu schreiben. Dabei geht es um die folgenden Schritte: Wir müssen erstens eine höhere Anzahl von Migranten aufnehmen - so viele, wie Europa braucht. Der Pariser Demografie-Experte Hervé Le Bras hat errechnet, dass wir jährlich 2,2 Millionen Flüchtlinge aufnehmen müssten, um bis ins Jahr 2050 das heutige Niveau der ökonomisch aktiven Bevölkerung halten zu können - das sind dreimal so viele Migranten, wie heute netto in die EU einwandern. Zweitens müssen wir die Entwicklungshilfe durch eine Ko-Entwicklungsstrategie ersetzen - das heißt: den Süden mit gemeinsamer Wertschöpfung und Technologie-Transfer unterstützen.

Europas südliche Nachbarn müssen zur Schlüsselregion werden, wenn es um die Verbreitung digitaler Technologien geht. Das Konzept der Koproduktion, bei dem Kunden sich in Partner verwandeln, sollte zur Regel werden. Die Vision von industrieller Entwicklung im Süden ist nicht unrealistisch: Die Weltbank schätzt, dass sich 85 Millionen Jobs aus China in andere Weltregionen verlagern werden. Die südlichen Mittelmeer-Anrainer und afrikanische Staaten könnten davon besonders stark profitieren.

Für Nord-Süd-Integration gibt es ganz pragmatische, das heißt: ökonomische Gründe

Der dritte Schritt wäre die Gründung einer Stiftung namens "Vertikale Afrika-Mittelmeer-Europa". Sie könnte ein Treffpunkt für die Eliten sein, ein politischer und ökonomischer Schmelztiegel - ähnlich der von den UN gegründeten Economic Commission for Latin America (Ecla) oder dem Economic Research Institute for Asean and East Asia (Eria). Eine interkontinentale Entwicklungsbank - nach dem Vorbild der Inter-American Development Bank oder der Asian Infrastructure Investment Bank - würde viertens den Kapitalfluss zwischen den Regionen erleichtern und langfristige Sicherheit für Investitionen garantieren.

Fünftens und letztens müssen wir unsere Wahrnehmung und unser Verhalten gegenüber Menschen aus dem Mittelmeerraum und Afrika ändern. Aus der Eroberungshaltung sollte eine Haltung des Teilens werden, Emotionen sollten der Vernunft weichen. Natürlich müssen wir standfest bleiben, wenn es um unsere Überzeugungen von Säkularität, Gleichheit und Gerechtigkeit geht. Doch diese Werte werden von einer schweigenden Mehrheit des Südens zunehmend geteilt.

Wie Pierre Beckouche, der französische Geograf, feststellt, haben Amerika und Asien längst mit einer Nord-Süd-Integration begonnen - und zwar aus pragmatischen, das heißt: ökonomischen Gründen. Wir sollten nicht länger zögern. Deshalb ist es richtig, dass Italiens Premierminister Matteo Renzi Afrika außenpolitische Priorität einräumt. Es ist richtig, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel Flüchtlinge willkommen heißt - sie können der europäischen Wirtschaft neue Impulse geben. Und es ist ebenso richtig, dass Frankreichs Präsident François Hollande den Fokus auf Sicherheit und Militärinterventionen im Ausland legt. Das Mittelmeer darf Europa und Afrika nicht länger trennen. Um voranzukommen, brauchen wir Staaten, die vorangehen: Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien.

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