Außenansicht:Putins müde Macht

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Kirill Rogov, 49, ist politischer Analyst und Kolumnist in Moskau. Er war stellvertretender Chefredakteur der russischen Tageszeitung Kommersant. Übersetzung: Julian Hans.

(Foto: oh)

Die Duma-Wahlen vom 18. September wurden zum Lehrstück in Sachen Manipulation. Denn die Russen sind ermattet.

Von Kirill Rogov

Bürgern demokratischer Staaten fällt es bisweilen schwer, die wahre Bedeutung politischer Vorgänge in autoritären Staaten zu verstehen. Jüngstes Beispiel sind die russischen Parlamentswahlen vom 18. September. Den offiziellen Angaben zufolge beteiligten sich 48 Prozent der Wahlberechtigten daran. Und 54 Prozent von ihnen gaben ihre Stimme der Kreml-Partei Einiges Russland. Derweil sagen unabhängige Beobachter, dass die Beteiligung in Wirklichkeit niedriger war - zwischen 37 und 40 Prozent - und dass für Einiges Russland etwas weniger als 40 Prozent gestimmt haben. Für russische Verhältnisse ist das eine sehr niedrige Wahlbeteiligung.

Wie kommen sie auf solche Zahlen? Unabhängige Beobachter gab es nur in etwa einem von hundert Wahllokalen. Eine statistische Analyse der Wahlbeteiligung in unterschiedlichen Regionen zeigt sehr deutlich, dass die Wahlen manipuliert worden sind. Und zwar zugunsten der Kreml-Partei Einiges Russland. Das ist insofern erstaunlich, weil sie es eigentlich nicht nötig gehabt hätten. Denn selbst die unabhängig überprüften Ergebnisse zeigen, dass Einiges Russland die Wahlen mit weitem Abstand gewonnen hat. Dank der Direktmandate hätte Einiges Russland auch ohne jede Fälschungen die absolute Mehrheit erreicht.

Die Opposition wurde marginalisiert, die Bedeutung der Wahlen heruntergespielt

Freilich werden Wahlen in autoritären Staaten nicht abgehalten, um die Vorlieben der Wähler zu ermitteln, sondern dafür, die Unterstützung für die Regierungspartei oder den Führer zu demonstrieren. Entsprechend ist die Aufgabe des Führers oder der regierenden Partei nicht der Wahlsieg über die Konkurrenz, sondern seine absolute Übermacht zu demonstrieren.

Das Bild dieser großen Übermacht wiederum ist ein wichtiges Signal an unzufriedene Bürger und Eliten, dass das Regime stark ist, es keinen Sinn macht, seine Macht anzuzweifeln oder die Opposition zu unterstützen. Für den durchschnittlichen Wähler, dessen politische Vorlieben nicht gefestigt sind, sind diese Ergebnisse ein Signal dafür, wie die Mehrheit denkt. Das veranlasst ihn, sein eigenes Urteil zu überdenken und in Richtung der dominierenden Meinung zu korrigieren. Das Ergebnis ist die Illusion einer allumfassenden Unterstützung, die ihrerseits ein wichtiges Element autoritären Gleichgewichts ist.

Für den Kreml waren die Wahlen am vergangenen Sonntag wichtig als Revanche für die misslungenen Wahlen 2011. Damals erschienen die Ergebnisse auch nicht ausreichend hoch, sie mussten "korrigiert" werden. Diese Schummelei gab den Anlass zu Massenprotesten der Opposition. Das gewohnte Bild der überwältigenden Übermacht und großen Popularität des Regimes bekam Risse.

Heute, am Vorabend der nächsten Präsidentschaftswahl, deren Held wieder Wladimir Putin werden soll, erschien es geboten, der Gesellschaft ein überzeugendes Signal zu senden: Die Dominanz des Kremls steht selbst in der anhaltenden Wirtschaftskrise nicht infrage.

Ein wichtiges und erfolgreiches Element in der Strategie des Kremls zum Erreichen dieses Ziels war die Zersetzung und Marginalisierung der Opposition. Ihre drei herausragendsten Vertreter konnten an den Wahlen nicht teilnehmen. Boris Nemzow wurde vor anderthalb Jahren unweit des Roten Platzes erschossen. Alexej Nawalny wurde für einen Betrug verurteilt, den es gar nicht gab. Und Michail Chodorkowskij muss im Exil leben. An den Wahlen hat der altgediente Oppositionelle Grigori Jawlinski teilgenommen, der sich zuletzt von der Politik entfernt hatte. Jawlinski ist bekannt für seinen Unwillen, seine Strategie mit anderen Kräften der Opposition zu koordinieren. Der zweite Oppositionelle, Michail Kassjanow hat sich mit den Anhängern Nawalnys zerstritten, denen er einen Platz auf seiner Wahlliste versprochen hatte. Selbst in jenen Wahlkreisen, in denen die Opposition gute Chancen gehabt hätte, traten ihre Vertreter häufig gegeneinander an. Im Ergebnis wird im neuen Parlament nicht ein einziger Vertreter einer echten Opposition sitzen.

Das zweite Element der Dominanz-Strategie des Kremls war die Demotivierung der Wähler. Die Wahlen wurden auf den September vorverlegt, kurz nach der Urlaubszeit. Das staatliche Fernsehen schenkte ihnen wenig Aufmerksamkeit. Im Ergebnis konnten fast ein Viertel weniger Russen mobilisiert werden als bei früheren Parlamentswahlen - das zeigen Umfragen. Sogar die offizielle Wahlbeteiligung von 48 Prozent liegt zwölf Prozentpunkte unter dem Durchschnitt früherer Wahlen. Dieses zweite Element der Kreml-Strategie erscheint paradox vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Überzeugung, dass Wladimir Putin außergewöhnlich hohe Zustimmung genießt. Wenn die Menschen das Regime unterstützen, wozu sollte der Kreml dann dafür sorgen, dass sie nicht zur Wahl gehen?

Im Endeffekt lieferten die Wahlen jenen Experten ein wichtiges Argument, die beteuern, dass die verbreitete Vorstellung über die hohe Unterstützung für das Regime Wladimir Putins übertrieben ist. Auch Umfragen können unter den Bedingungen von Propaganda-Druck und Verfolgung der Opposition kein adäquates Bild der öffentlichen Meinung liefern.

Tatsächlich wurde die "überwältigende Mehrheit" der Kreml-Partei bei den Wahlen überwiegend durch die drei genannten Faktoren erreicht - die schwach organisierte Opposition, die Apathie eines großen Teils der Wähler und die Wahlfälschungen. Aber keineswegs durch den Enthusiasmus der Putin-Unterstützer. Vielmehr zeugen die Wahlergebnisse von einem Phänomen, von dem Soziologen schon seit etwa einem halben Jahr sprechen: Die Welle der revanchistischen und nationalistischen Emotionen, die sich nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine aufgetürmt hatte, ist verbraucht. Putins Regentschaft wird eher geduldet als gefeiert.

Dennoch sind bislang noch keine Anzeichen zu sehen, dass sich die Wähler liberalen oder linken Oppositionsgruppen zuwenden. Die Gesellschaft ist wie verkatert: Der Schwips ist vorbei, aber zum nüchternen Blick auf die Dinge ist man noch nicht zurückgekehrt.

Dieser Zustand wirft eine beunruhigende Frage auf: Was wird der Kreml tun, um die Wähler vor den Präsidentschaftswahlen 2018 erneut zu mobilisieren? Ein wirtschaftlicher Aufschwung ist nicht in Sicht, "Stabilität" wird also kaum zum Erfolg führen. Aber ein lauer Sieg in der Form, wie er bei dieser Wahl errungen wurde, wird Wladimir Putin nicht genügen. Zur Legitimierung seiner riskanten und aggressiven Politik vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Depression braucht er einen überzeugenderen Sieg.

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