Außenansicht:Neues Chaos nach den Wahlen?

Wer Präsident der USA wird ist noch ungewiss. Am 3. November 2004 könnte aber ein weit größeres Chaos herrschen, als es auf die Wahl von Bush im Jahr 2000 folgte - mit unvorhersehbaren Konsequenzen.

Von Norman Birnbaum

Glaubt man den neuesten Umfragen zur amerikanischen Präsidentschaftswahl, so liegt der Demokrat John Kerry vor dem Amtsinhaber George W. Bush.

Allerdings könnte Ralph Nader, Anwalt für Verbraucher- und Umweltschutz, seinen früheren Verbündeten wieder einen Strich durch die Rechnung machen, wenn er - wie angekündigt - antritt.

Die Demokraten sind davon überzeugt, dass Nader sie schon das letzte Mal die Wahl gekostet hat, weil er dem demokratischen Kandidaten Al Gore die entscheidenden drei Prozent der Stimmen wegschnappte.

Während sie sich nun auf ihren Nominierungs-Parteitag Ende Juli in Boston vorbereiten, sind die Demokraten zuversichtlich. Doch bis zum Wahltag am 2. November fließt noch viel Wasser den Potomac herunter.

Die Parteien müssen ihre Stammwähler mobilisieren

Für den Ausgang der Wahl wird einiges davon abhängen, ob die Parteien ihre Stammwähler mobilisieren können.

Bei den Demokraten sind es die Schwarzen, die Umweltschützer, die Gewerkschafter, allein stehende berufstätige Frauen, Anhänger der Trennung von Staat und Kirche sowie liberale und fortschrittliche Katholiken, Protestanten und Juden.

Die Republikaner dagegen zählen auf konservative Katholiken und Protestanten, den weißen Süden, Unternehmer, die Waffenlobby und auf die Anhänger eines primitiven amerikanischen Nationalismus.

Die Latinos, die Amerikaner lateinamerikanischer Abstammung, sind gespalten, doch sie tendieren mehrheitlich zu den Demokraten.

Die obere Mittelschicht Amerikas ist zwar mit Bushs Wirtschaftspolitik einverstanden, sie stört aber die repressive Kulturpolitik und die Homophobie der Republikaner.

Die männlichen weißen Protestanten aus der Arbeiterschicht, die sich vom Feminismus bedroht fühlten, haben über drei Jahrzehnte für die Republikaner gestimmt. Ihre Kastrationsängste haben gegenüber ihren wirtschaftlichen Interessen stets überwogen. Bedroht von Arbeitslosigkeit könnten sie sich allerdings wieder den Demokraten zuwenden.

Die Demokraten halten den Republikanern vor, für die Abwanderung von Jobs ins Ausland und für die endlosen Skandale, bedingt durch kapitalistische Geldgier und Korruption, verantwortlich zu sein. Der Wirtschaftsaufschwung in Amerika scheint derzeit zu stagnieren. Trotz steigender Gewinne bleibt die Arbeitslosigkeit hoch.

Das Irak-Debakel hat Bushs Image als kompetente Führungspersönlichkeit zusätzlich untergraben. Dennoch könnte ein weiterer Angriff von Islamisten auf die Vereinigten Staaten die Wahlchancen des amerikanischen Präsidenten stärken. Er könnte ihn aber auch Stimmen kosten, weil Bush bei der Bekämpfung des Terrorismus den falschen Weg eingeschlagen hat.

Die amerikanischen Medien helfen Bush derzeit, weil sie nicht gewillt sind, die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit im Lande zu thematisieren.

An Kerry kritisieren sie seinen Charakter - wie seine "Wankelmütigkeit" . Über seine politischen Ziele schweigen sie sich aus. Nur was das Irak-Thema anbetrifft, haben die Medien inzwischen eine gewisse Unabhängigkeit erreicht und funktionieren weniger als ein amerikanisches Reichspropagandaministerium, wie sie es in den vergangenen eineinhalb Jahren getan haben.

Doch immer noch halten die Medien in den USA an der fundamentalen theologischen Überzeugung der Nation fest, die besagt: Gott hat Amerika dazu auserkoren, für Recht und Ordnung auf der Welt zu sorgen.

Keine Umwandlung Amerikas in eine Monarchie

Der Richterspruch, mit dem der Oberste Gerichtshof den Guantanamo-Häftlingen das Recht auf Klage einräumte und damit der Umwandlung Amerikas von der Republik in eine absolute Monarchie einen Riegel vorschob, hat die Opposition ermutigt.

Dieselbe Wirkung erzielte eine Rebellion in Kreisen des Militärs und der außenpolitischen Bürokratie gegen die Bush-Regierung.

Mit Hilfe des Internets als Kommunikations- und Organisationsmittel unterstützt eine ganz neue Gruppe von Bürgerinitiativen die Demokraten. Aufgeregt versuchen die Legionen der Rechten, auf diesem Gebiet zurückzuschlagen.

Kerry ist in letzter Zeit zudem äußerst erfolgreich gewesen beim Sammeln von Wahlspenden, zumindest verringert er diesbezüglich die Kluft zwischen den beiden Parteien.

Ob mehr als die Hälfte der amerikanischen Bürger zur Wahl gehen werden, ist noch unsicher. Nur so viel ist wohl klar: Bei einem knappen Wahlausgang in einem der US-Bundesstaaten werden die Verlierer versuchen, das Ergebnis gerichtlich revidieren zu lassen.

Am 3. November 2004 könnte in den USA ein weit größeres Chaos herrschen, als es auf die Wahlen im Jahr 2000 folgte - mit unvorhersehbaren Konsequenzen.

Kerry und der von ihm für das Amt des Vizepräsidenten designierte Senator John Edwards können nicht damit rechnen, dass Bush sich im Wahlkampf selbst aus dem Rennen wirft.

Für Kerry dürfte Edwards sich als wertvoller Mitstreiter erweisen. Er wird als Südstaatler im Süden Stimmen gewinnen, und er kommt auch bei den politisch weniger Interessierten gut an. Anders als der hypervorsichtige Kerry ("Ich bin kein Umverteiler") erinnert Edwards die Nation daran, dass es durchaus zwei Seiten von Amerika gibt - wie zwei Seiten einer Medaille.

Sowohl Edwards als auch Kerry haben im amerikanischen Kongress für den Krieg im Irak gestimmt. Viele Demokraten wollen allerdings jetzt einen raschen Rückzug. Kerry spricht von einer Rückkehr zum Multilateralismus.

Erinnerungen an Vietnamkriegs-Rhetorik

Gleichzeitig beruft er sich auf Amerikas "Verantwortung", weiterhin die Welt zu führen. Seine Rolle als potenzieller künftiger Präsident der USA erschwert er sich selbst, indem er betont, die Vereinigten Staaten würden im Irak "auf Kurs" bleiben.

Diese Worte erinnern merkwürdig an die offizielle Vietnamkriegs-Rhetorik, und sie kommen ausgerechnet aus dem Mund eines der Helden der damaligen Antikriegsbewegung, der vom Kämpfer zum Gegner konvertierte.

Es ist schwer vorstellbar, dass John Kerry als US-Präsident Israel zu einer rationaleren Außenpolitik bewegen könnte. Der Konflikt mit der arabischen und der muslimischen Welt wird also weiterhin die gesamte Außenpolitik der Vereinigten Staaten verzerren.

Kerry kritisierte zwar, dass durch die Abwanderung des Kapitals Arbeitsplätze in den USA verloren gehen - aber eine Alternative zur gegenwärtigen Weltwirtschaftspolitik schlägt er nicht vor. Auch der Demokratischen Partei liegt die internationale Finanzpolitik wohl noch mehr am Herzen als die Gewerkschaften.

In Europa hoffen viele auf eine Wahlniederlage von George W. Bush. Es waren allerdings die mangelnde Einheit und die Schwäche Europas, die es Bush ermöglicht haben, weltweit schweren Schaden anzurichten.

Solange die Europäer sich nicht als überzeugende Alternative zu Amerikas Hegemonie präsentieren, werden jene Demokraten, die einen fundamentalen Wandel in Amerikas Außenpolitik anstreben, es schwer haben, eine Regierung ihrer Partei in die gewünschte Richtung zu lenken. Ob es zu dieser Situation kommen wird, ist freilich höchst ungewiss.

Übersetzung von E.C. Koppold Auf Deutsch hat Birnbaum zuletzt "Nach dem Fortschritt" veröffentlicht.

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