Außenansicht:Naivität hat einen Preis

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Adriaan Schout, 56, ist Koordinator für innere Angelegenheiten der EU beim Niederländischen Institut für auswärtige Angelegenheiten ("Clingendael").

Über die Furcht der kleinen EU-Mitgliedsstaaten vor faulen deutsch-französischen Kompromissen auf ihre Kosten.

Von Adriaan Schout

Ob wir es wollen oder nicht, in der Euro-Zone gibt eine Nord-Süd-Teilung. Die Süden besteht aus mehr Ländern, das politische Kraftzentrum liegt jedoch in Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland. Die Niederlande können sich leicht mit den nordischen Ländern Dänemark, Schweden und Finnland zusammentun, wobei nur Finnland in der Euro-Zone ist. Wie wackelig die Machtbalance ist, zeigt sich in der Europäischen Zentralbank (EZB). Bundesbankpräsident Jens Weidmann und sein niederländischer Kollege Klaas Knot sind Teil einer Minderheit, die sich offen kritisch über Mario Draghis lockere Geldpolitik äußern. Für die Niederlande hängt die Glaubwürdigkeit des Euro auch an Deutschland.

Die Niederlande teilen sich mit Deutschland Visionen und Interessen. Wenn es darum geht, die EU und die Euro-Zone zusammenzuhalten, ist Deutschland sehr zuverlässig. Deutschland hat zu Recht ein großes Verantwortungsgefühl. Beide Länder wollen eine regelbasierte europäische Integration und einen regelbasierten Euro. Zu dieser ordnungsliberalen Einstellung gehören der Respekt vor Regeln, die unabhängige Aufsicht über die Wirtschaft der Mitgliedsländer und eine unabhängige EZB. Dieses Modell wird zynisch als "deutsches Europa" diffamiert. Ihm stehen die Ambitionen der südlichen Länder entgegen, die auf eine flexiblere, politischere und auf Solidarität basierende Euro-Zone hoffen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat eine ganz ähnliche Vision: Er will eine "sehr politische" EU-Kommission. "Regeln" und "Politik" sind jedoch zwei verschiedene und häufig gegensätzliche Prinzipien.

Die Tragik liegt darin, dass Deutschland nur sehr widerwillig das "deutsche Europa" verteidigt. Dadurch wird es zu einem riskanten Partner für die nördlichen Länder. Martin Schulz zum Beispiel nimmt für sich in Anspruch, ein "europäisches Deutschland" zu verteidigen. Trotz der hitzigen EU-Diskussionen in den deutschen Medien ist Deutschland, besonders gegenüber Frankreich, immer kompromissbereit, um die EU voranzubringen. In diesen Tagen stehen die Deutschen wieder unter enormem Druck, symbolische Kompromisse mit Emmanuel Macron zu schließen. Höchste Zeit, dass Deutschland Lehren zieht aus den ungewollten Konsequenzen seiner bisherigen Flexibilität.

Deutschland ist zu schnell bereit, seine eigenen Prinzipien aufzuweichen

Der typische EU-Kompromiss kombiniert Schritte zur tieferen politischen Integration mit Deutschlands Forderung nach mehr Regeln, um Reformen in schwachen Ländern zu erzwingen. Ein wichtiges Beispiel ist die gemeinsame Währung, die Deutschland nur mit der No-Bail-out-Regel, der Begrenzung der Staatsschulden und einer unabhängigen EZB akzeptierte. Doch die No-Bail-out-Regel ist durch die Rettungspakete für Griechenland kompromittiert, Italien und Frankreich haben immer noch Staatsschulden von 132 und 96 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und die EZB ist aktiver als zuvor erwartet. Seit geraumer Zeit fordern die nördlichen Länder stärkere wirtschaftliche Überwachung der Kommission durch einen unabhängigen Budget-Zar. In der Praxis werden die Regeln nur nachlässig eingehalten. Die Erklärung Junckers im vergangenen Jahr, es werde nichts gegen das französische Haushaltsdefizit unternommen, "weil es Frankreich ist", zeigen die Realität in der Euro-Zone. Das Resultat: Die Wachstumsunterschiede bleiben, die Spannungen und die Arbeitslosigkeit nehmen zu, was eine immer tiefere Integration notwendig macht.

Als Konsequenz fühlte sich Juncker zum Beispiel gezwungen, einen ambitionierten europäischen Investitionsfonds zu schaffen ("Juncker-Fonds"). Vor ein paar Jahren waren Deutschland und die Niederlande noch gegen so einen Globalisierungsfonds. Trotzdem beschloss Juncker einen Fonds von 315 Milliarden Euro, den er während seiner Rede zur Lage der Union im vorigen Jahr auf 630 Milliarden verdoppelte.

25 Jahre Währungsintegration zeigen, dass Kompromisse in Europa zu vage sind und dass sie zu große ungewollte und unerwartete Konsequenzen haben. Die deutsche Bereitschaft, die ordnungsliberalen Prinzipien aufzuweichen, war viel stärker als die Bereitschaft südlicher Länder wie Italien, mit dem Status quo zu brechen.

Die tiefere Integration der Euro-Zone ist wieder ganz oben auf der Tagesordnung. Die Ambitionen des französischen Präsidenten brauchen symbolische Unterstützung der EU, um ihm bei seinen Reformen zu Hause den Rücken zu stärken. Offensichtlich sind Angela Merkel und Martin Schulz zu weiteren scheinbar kleinen Kompromissen bereit. Die jedoch können später große Konsequenzen haben. Deutschland ist zum Beispiel bereit, mit Frankreich über die Anpassung von Steuern zu diskutieren. Egal wie man zu der Frage steht, ob Steuerpolitik in der Kompetenz der Union liegen soll - eine bilaterale Vereinbarung zwischen Frankreich und Deutschland wird die Debatten auf EU-Ebene beeinflussen. Weiter hat Merkel ihr Interesse an einem europäischen Wirtschafts- und Finanzminister bekundet. Die Einführung dieses Amtes scheint erst einmal harmlos zu sein. Ein derartiger Minister wird wahrscheinlich die momentane Rolle des Präsidenten der Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, übernehmen und nationale Reformen kontrollieren. Allerdings ist es offensichtlich, dass die Erwartungen an das Amt sehr verschieden sind. Die südlichen Länder wollen mit ihm die Euro-Zone weiter politisch integrieren, während Deutschland vielleicht annimmt, dies sei ein Schritt zu mehr Reformen und europäischer Kontrolle. Man muss sich aber fragen, ob dieser Minister Teil der europäischen Kommission sein wird und ob die Kommission sich so mehr zu einer europäischen Regierung entwickelt. Und was bedeutet das für die politischen Kompetenzen des Europaparlamentes? Ebenso könnte Macrons Forderung nach einem Budget für die Euro-Zone durch Deutschland verwässert werden. Wenn Deutschland aber solch einem Solidarität-gegen-Konditionalität-Kompromiss zustimmt, muss man wissen, was ein derartiges Budget beinhaltete, wie es finanziert würde, und was die Rolle des Europaparlaments wäre.

Kleine Änderungen können große Konsequenzen haben. Es wäre naiv von Deutschland, diese Lehre aus dem Euro jetzt zu vernachlässigen. Es ist essenziell für die Glaubwürdigkeit des europäischen Projektes und des Euro, dass Politiker genau wissen, was die möglichen Konsequenzen und Risiken ihrer Kompromisse sind, und diese auch klar kommunizieren. Es ist bedauernswert, dass die Politiker im deutschen Wahlkampf es versäumen, die Fragen, die momentan auf der europäischen Tagesordnung sind, konkret anzusprechen. Zu viel steht auf dem Spiel, und nicht nur für Deutschland.

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