Außenansicht:Misstrauen - eine deutsche Krankheit

In ihrem Wahlkampfslogan spricht die SPD ein Grundproblem der deutschen Gesellschaft an: mangelndes Vertrauen. Das könnte durch die vorgezogene Bundestagswahl wiederhergestellt werden.

Die SPD hat ihr Wahlmanifest mit dem Titel "Vertrauen in Deutschland" überschrieben. Die Betonung des "Vertrauens" ist klug gewählt. Unmittelbar nach seiner Wahl hatte Bundespräsident Horst Köhler vor der Bundesversammlung deutlich gemacht, wie wichtig Vertrauen als "Sozialkapital" für eine Gesellschaft ist.

Außenansicht: Der Wahlkampfslogan der SPD ist klug gewählt.

Der Wahlkampfslogan der SPD ist klug gewählt.

(Foto: Foto: dpa)

Umso erstaunlicher ist es, dass er in seiner Rede zur Auflösung des Bundestags nicht vom Vertrauen gesprochen hat. Noch erstaunlicher: Der Bundeskanzler hat in seiner Ansprache danach auch nicht explizit um das Vertrauen der Bevölkerung geworben.

Aber vielleicht bestätigen diese Unterlassungen nur die Regel: Vertrauen ist nicht nur der Grundstoff des Sozialen, sondern auch eine Voraussetzung für moderne und produktive, nämlich extrem arbeitsteilige Gesellschaften. Im ohnehin schon rohstoffarmen Deutschland ist es aber auch um diesen Grundstoff leider nicht gut bestellt.

Kein Handel ohne Grundvertrauen

Wie wichtig Vertrauen ist, haben inzwischen auch die Ökonomen erkannt, die zwei Jahrhunderte lang eifrig das Bild eines vom puren Eigennutz getriebenen ultrarationalen und misstrauischen "Homo Oeconomicus" gepflegt haben. Denn am Markt funktionieren selbst einfachste Transaktionen wie zum Beispiel der Kauf eines Apfels nicht ohne Grundvertrauen.

Der Käufer hofft, dass das lecker aussehende Obst nicht innen faul ist, und der Verkäufer geht davon aus, dass der Kunde bezahlen wird. Und es gibt jede Menge Transaktionen, bei denen ein weit höheres Maß an Vertrauen notwendig ist: Der Kauf eines Gebrauchtwagens, von dem man nicht weiß, was er taugt, ist ein ökonomisches Lehrbuchbeispiel. Und - ganz wichtig - insbesondere der Abschluss eines Arbeitsvertrages erfordert viel Vertrauen.

Da ein Arbeitgeber einen Menschen nicht mit Haut und Haaren "kaufen" kann, muss er darauf bauen, dass dieser Mensch als Arbeitnehmer eine angemessene Leistung erbringt. Misstrauen kostet Geld, da die Überwachung der Arbeitsleistung nicht umsonst zu haben ist. Dabei gilt: Arbeitnehmer, die kontrolliert werden, liefern eine schlechtere Leistung ab.

Selbstständige vertrauen eher

Die Notwendigkeit von Vertrauen in fremde Mitmenschen und anonyme Institutionen macht moderne Gesellschaften zu fragilen Gebilden. Ihr Zustand lässt sich inzwischen messen. Seit dem Jahr 2002 erhebt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) repräsentative Zahlen zum Vertrauen; die aktuellsten stammen aus diesem Sommer.

Dabei zeigt sich: Im privaten Bereich kann von einem Vertrauensproblem keine Rede sein. Mindestens 80 Prozent der Befragten vertrauen ihrer eigenen Familie sehr stark, und auch bei Freunden ist das so.

Aber Fremden gegenüber, die uns zum ersten Mal begegnen, verhalten wir uns äußerst reserviert: Etwa 80 Prozent wird wenig oder gar kein Vertrauen geschenkt. Selbstständige bilden übrigens eine Ausnahme. Fast ein Drittel vertraut Fremden. Diese Einstellung hilft dabei, riskante Geschäfte zu machen.

Preussisches Misstrauen

Der World Value Survey macht deutlich, dass international gesehen in Deutschland eher ein geringeres Maß an Vertrauen herrscht. In der weltweiten Erhebung wird die Frage gestellt, ob man "den meisten Menschen vertrauen kann".

In Deutschland geben dies etwa 35 Prozent der befragten Erwachsenen an. Deutlich besser schneiden die skandinavischen Länder und die Niederlande ab, wo der Anteil derjenigen, die im Allgemeinen Menschen vertrauen, bei mehr als 60 Prozent liegt.

Diese sind in Europa auch die wirtschaftlich erfolgreichen Nationen. Und selbst im rauen Klima der USA wird den Mitmenschen etwas mehr Vertrauen entgegengebracht - anders kann eine besonders individualistisch geprägte Gesellschaft auch nicht funktionieren.

In wirtschaftlich schwächeren Ländern ist das Ausmaß an Vertrauen typischerweise viel kleiner. So in der Türkei mit sieben Prozent oder in Polen und Ungarn mit etwa 20 Prozent. Aus dem Rahmen fällt nur Frankreich, wo trotz hohen Wohlstands auch nur gut 20 Prozent der Befragten (das seit Jahrzehnten) angeben, dass man den meisten Menschen vertrauen kann.

Unterdurchschnittliche Vertrauenswerte

Freilich: Frankreich und auch Großbritannien (knapp 30 Prozent Vertrauen) sind Gesellschaften mit hohen sozialen Schranken, die Kinder nur schwer überspringen können. Insofern ist ein hohes Maß an Misstrauen gegenüber den anderen durchaus erklärbar (wie man es auch bei der schwarzen Bevölkerung in den USA findet).

Erschreckend ist das äußerst geringe Vertrauen, das in Deutschland gleichermaßen Gewerkschaften und großen Wirtschaftsunternehmen entgegengebracht wird. Nur knapp ein Viertel der Befragten schenkt diesen Vertrauen. Dies sind auch innerhalb der EU, wie der "Eurobarometer" zeigt, unterdurchschnittliche Werte.

Mit nur 20 Prozent äußerst dürftig ist seit Jahren in Deutschland das Vertrauen in den Bundestag. Selbst dem häufig öffentlich kritisierten Zeitungswesen wird in der Bevölkerung mit einem guten Drittel noch deutlich mehr vertraut als der Politik; Deutschland liegt damit im EU Durchschnitt.

Neue Vertrauensbasis

Bei allem Misstrauen in Deutschland: Eine wichtige Basis für Zuversicht ist, dass staatlichen Institutionen - so dem Bildungswesen und insbesondere dem Rechtsstaat - nach wie vor viel Vertrauen entgegengebracht wird. Der Polizei vertrauen sogar fast 75 Prozent der Befragten; nur jeder Zwanzigste ist gegenüber der Polizei skeptisch eingestellt.

Bei mehr als 50 Prozent der Befragten ist hohes Vertrauen in die Gerichte gegeben (dies ist auch innerhalb der EU ein überdurchschnittlicher Anteil); nur etwa jeder Zehnte hat gegenüber Gerichten in Deutschland gar kein Vertrauen.

Was in Deutschland fehlt, ist Vertrauen in fremde Mitmenschen und in die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Das kann nicht verordnet werden, sondern muss sich in einem wechselseitigen Prozess wieder aufbauen. Die Bundestagswahl kann eine Basis dafür schaffen, dass verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen wird.

Schlimm könnte es werden, wenn das Bundesverfassungsgericht die Neuwahlen stoppen würde und daraus sogar Misstrauen gegenüber der Justiz erwachsen würde.

Professor Gert G. Wagner (links) und Dr. Jürgen Schupp leiten die Studie "Leben in Deutschland" am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Jürgen Schupp ist Lehrbeauftragter für Soziologie an der FU Berlin; Gert Wagner lehrt Volkswirtschaft an der TU Berlin. (SZ vom 11.8.)

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