Außenansicht:Migration als Waffe

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Flüchtlinge in einem Durchgangslager in der Nähe von Athen, Griechenland (Foto: dpa)

Geopolitische Konflikte werden zunehmend mit nicht-militärischen Mitteln ausgetragen. Staaten instrumentalisieren jedoch nicht nur Handel und Finanzen.

Von Mark Leonard

In der allgemeinen Vorstellung ist Krieg untrennbar mit militärischer Konfrontation verbunden. Als die Türkei am 24. November 2015 einen russischen Militärjet beschoss, verbreiteten sich die Bilder von der abstürzenden Maschine sofort in Medien und sozialen Netzen. Die Sorge war groß, dass die nächsten Bilder die Bombardierung türkischer Stützpunkte durch die russische Luftwaffe zeigen würden.

In Russland kochten die Emotionen hoch: Demonstranten bewarfen die türkische Botschaft mit Steinen und faulen Eiern, die Medien forderten Rache für den Tod des russischen Piloten. Doch die Antwort Wladimir Putins waren nicht Bomber. Der Präsident stoppte die Einfuhr von Früchten und Gemüse aus dem Land. Er verbot Charterflüge in türkische Urlaubsgebiete und den Verkauf von Pauschalreisen, er beendete die Visafreiheit zwischen beiden Ländern.

So ungewöhnlich diese Reaktion erscheinen mag; es handelt sich weder um einen Einzelfall, noch um eine russische Eigenart. Auch die EU und die USA haben die Instrumentalisierung wirtschaftlicher Abhängigkeit perfektioniert. Als Russland die Krim annektierte, schickte die EU keine Brigade. Stattdessen wurden Konten und Vermögen von Oligarchen eingefroren und die Einfuhr bestimmter Produkte wurde beschränkt. Juan Zarate, ehemaliger Berater George W. Bushs und Architekt der Iran-Sanktionen, brachte es auf den Punkt: "Geopolitik ist ein Spiel, das heute am besten mit Finanz- und Handelswaffen gespielt wird."

Wirtschaftliche Abhängigkeit wird im geopolitischen Spiel instrumentalisiert

Die Weltwirtschaft ist ein Spiegel der Weltpolitik. Im Kalten Krieg existierten nur wenige Verbindungen über den Eisernen Vorhang hinweg. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde aus einer geteilten Welt eine Welt gegenseitiger Abhängigkeit. Freihandel brachte Wachstum und Entwicklung, die Zahl der Armen weltweit nahm ab, internationale Investitionen stiegen dramatisch, die Kommunikation verbesserte sich. Die Globalisierung drang bis in den letzten Winkel vor.

Doch Verflechtung und Abhängigkeit läuteten, anders als Optimisten gehofft hatten, nicht das Ende des geopolitischen Machtkampfs ein. Das Spiel geht weiter, aber in neuer Form. Die Schlachtfelder künftiger Konflikte werden nicht Schützengräben, Ozeane oder der Himmel sein, sondern Handel, Finanz, internationale Institutionen, Migrationsströme, Verkehrsverbindungen und das Internet. Wirtschaft und internationale Interdependenz sind die Waffen der Zukunft. Präsident Barack Obama wird bisweilen als Drohnen-Präsident bezeichnet. Doch Drohnen sind ein Instrument der alten Zeit - Sanktionen sind die neuen Drohnen. Wie Drohnen erlauben sie es zu intervenieren, ohne Truppen entsenden zu müssen. Genau wie Drohnenangriffe werden Sanktionen immer gezielter und "chirurgischer". Und wie die Drohnenkriege können Sanktionen weitestgehend unbeachtet von der Bevölkerung implementiert werden.

Anders jedoch als Drohnen sind Sanktionen keine exklusive Waffe des Westens. Überall auf der Welt werden heute wirtschaftliche und andere Abhängigkeiten aus politischen Gründen instrumentalisiert. Die Türkei schließt die Grenze zu Armenien und schneidet das Land vom westlichen Markt ab, Russland schließt amerikanische Schnellrestaurants und Indien verbietet Treffen indischer und pakistanischer Sportteams.

Nicht nur Handel und Finanzen, auch Institutionen, Infrastruktur und Migrationsströme werden geopolitisch instrumentalisiert. Während Russland Sanktionen gegen die Türkei verhängte, saß die türkische Regierung mit der EU bei einem Flüchtlingsgipfel. Präsident Erdoğan benutzte die durch sein Land ziehenden Flüchtlingsströme, um das Machtverhältnis mit der EU zu ändern. Aus dem Bittsteller, der vor den Toren der EU wartet, wurde ein machtvoller Akteur, der Geld und politische Gefälligkeiten einfordern konnte.

Nicht-militärischer Druck funktioniert besonders gut bei liberalen Demokratien

Die Türkei wiederum wirft Russland vor, in Syrien bewusst zivile Einrichtungen anzugreifen, um Europa und die Türkei mit immer mehr Flüchtlingen unter Druck zu setzen. Nach einer Studie der US-Politikwissenschaftlerin Kelly Greenhill funktioniert diese Art politischen Drucks besonders gut gegenüber liberalen Demokratien, die Menschenrechte schützen wollen und dann zwischen diesem Anspruch und dem Unmut der eigenen Bevölkerung zerrieben werden. Greenhill hat mehr als 50 Einsätze solcher "Massenmigrationswaffen" in den letzten 60 Jahren nachgewiesen - zuletzt besonders gehäuft.

Die Institutionen, in die aufstrebende Mächte eingebunden werden sollten, um aus ihnen verantwortungsbewusste Akteure der Weltgemeinschaft zu machen, werden aus geopolitischem Kalkül blockiert und umgangen. Immer mehr exklusive, miteinander konkurrierende Institutionen werden gegründet, von den Brics, über die von Russland gesponserte Eurasische Wirtschaftsunion bis zu Chinas Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.

Selbst Handelsrouten werden geopolitisiert. In einer Welt der Abhängigkeiten ist es eine erfolgreiche Strategie, andere mehr von sich abhängig zu machen, als man es von ihnen ist. Auf der Jagd nach asymmetrischer Interdependenz reduzieren Regionalmächte wie Russland, China, Deutschland, Brasilien, Südafrika, Nigeria ihre Nachbarländer zu wirtschaftlicher Peripherie. Das chinesische Seidenstraßenprojekt - eine Unternehmung so groß wie der Marshallplan - folgt einem einfachen Leitspruch: Alle Wege führen nach Peking. Wer China respektiert, wird belohnt. Wer es nicht tut, isoliert und ausgegrenzt.

Handelsrouten sind die Hardware der Globalisierung. Das Internet ist die Software. Und wie die physische Infrastruktur wird auch die virtuelle Infrastruktur von machthungrigen Staaten instrumentalisiert. Das Internet, einst erdacht als globaler Marktplatz der Ideen, zersplittert und fragmentiert sich entlang nationalen Grenzen, sei es aus Sorge um Privatsphäre, Cybersicherheit, oder aus Nationalismus. Nicht nur in Deutschland wird über ein nationales "Internetz" nachgedacht.

Einst als ultimatives Hindernis für internationale Konflikte gelobt, hat sich Interdependenz in eine Währung der Macht verwandelt. Auch wenn militärische Zurückhaltung generell positiv ist, die Leichtigkeit, mit der Staaten ihre gegenseitige Abhängigkeiten instrumentalisieren, ist ein schlechtes Omen. 1914 kollabierte die globale Ordnung, weil die mächtigsten Länder den Krieg suchten. Hundert Jahre danach könnte das Gegenteil passieren: Die Weltwirtschaft könnte zusammenbrechen, gerade weil die Staaten militärische Konflikte vermeiden und stattdessen ihre Abhängigkeit instrumentalisieren.

© SZ vom 04.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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