Außenansicht:Klare Kante

Außenansicht: Klaus Hänsch, 78, war viele Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments und von 1994 bis 1997 dessen Präsident.

Klaus Hänsch, 78, war viele Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments und von 1994 bis 1997 dessen Präsident.

(Foto: oh)

Kein falscher Ehrgeiz: Nach dem Brexit geht es nicht um einen Neubeginn der Union, sondern um deren Festigung.

Von Klaus Hänsch

Die Brexiteers hatten und haben zwar keinen Plan für die Lösung der Austrittsprobleme für Großbritannien, aber sie haben eine Strategie für den Umgang mit der Union.

Es geht ihnen zunächst darum, Wirkung auf die Union zu erzielen. Die Absicht, zwischen Austrittsvotum und -notifizierung möglichst viel Zeit verstreichen zu lassen, ist kein Zeichen von Verwirrung, sondern Kalkül. Solange sie den Scheidungsbrief in Brüssel nicht abgeben, sind sie es, die über das weitere Vorgehen entscheiden - vor allem über die Dauer des Trennungsverfahrens. Wenn nach der Notifizierung die Verhandlungen über die Trennung und die künftigen Verbindungen beginnen, sitzt die Union am längeren Hebel:Gibt es nach zwei Jahren kein Ergebnis, endet die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs abrupt ohne Vereinbarung - es sei denn, die 27 beschließen einstimmig (!) eine Verlängerung der Frist.

Natürlich ist den Brexiteers die vertragsrechtliche Lage klar. Wenn sie auf Zeit spielen, rechnen sie damit, dass die Volatilität der Meinungen und Positionen über die Zukunft der Union und ihr Verhältnis zu Großbritannien sich mit der Zeit noch erhöhen wird. Sie polieren die alte britische Europastrategie wieder auf: Dabei sein, ohne drin zu sein. Erst über die Zukunft der Union mitentscheiden - und dann gehen.

Als ausgewiesene Politabenteurer handeln die Brexiteers keineswegs planlos, aber ins Risiko verliebt. Sie sind davon überzeugt, dass sie in einem Showdown die stärkeren Nerven haben. Hält die britische Wirtschaft oder die des Binnenmarktes die Phase der Unsicherheit länger aus? Geht die öffentliche Meinung diesseits oder jenseits des Kanals eher in die Knie? Welches System der Demokratie ist flexibler im Umgang mit einem beispiellosen Entscheidungsverlauf, das britische oder das kontinentale, ganz zu schweigen von dem der Union? Es ist ja wirklich nicht ausgeschlossen, dass es die Union ist, die als Erste blinzelt. Schließlich heißt es aus Wirtschaft und Wissenschaft in Deutschland schon warnend, dass ohne Briten die Märkte in der Union in Gefahr geraten würden und südlicher Ausgabensozialismus die Oberhand gewinnen könnte.

Solange der Austritt nicht vollzogen ist, nehmen die Briten an allen Pflichten, Rechten und Vorteilen der Union teil. Auf britische Zurückhaltung bei der Mitwirkung an Unionsentscheidungen sollte sich die Union nach der Lügen- und Diffamierungskampagne auf der Insel besser nicht verlassen. Zu dem gar nicht geheimen Waffenarsenal der Johnson & Co. gehört schließlich auch die politische und rechtliche Obstruktion durch Beschlussverzögerung oder -verweigerung im Rat oder durch innerstaatliche Nichtanwendung von ausgewählten Teilen des Unionsrechts.

Strategie der Brexiteers ist es vor allem, die Union zu beeinflussen

Die Brexiteers könnten mit ihrer Strategie scheitern, allerdings weniger an der Union als an der innenpolitischen Entwicklung auf der Insel selbst. An einer vorsätzlichen Austrittsverzögerung, die den Eindruck erweckt, sich über das zwar knappe, aber doch klare Ergebnis einer Volksabstimmung hinwegzusetzen, könnte sich eine schwere Legitimationskrise der britischen Demokratie entzünden, die das Aufzeitspielen beenden dürfte. Neuwahlen, wenn es sie denn gäbe, werden mit den in sich gespaltenen Parteien nicht zu einer Änderung der Strategie oder gar zu einem Rücktritt vom Austritt führen. Auf solche Unwägbarkeiten darf sich die Union in keinem Fall einlassen.

Wenn der Brexit-Anführerer Boris Johnson erzwungen-freiwillig darauf verzichtet, das Vereinigte Königreich durch Mühsal zum Austritt zu führen, kann London bei den Trennungsverhandlungen in Brüssel nervenschonender auftreten. Das passt zur Strategie, mit dem Ergebnis des Referendums zunächst und vor allem die Union beeinflussen zu wollen.

Wie aber reagiert die Union?

Die Forderung nach einem schnellen Beginn des Trennungsprozesses ist begründet. Jahrelange Selbstbeschäftigung mit dem Brexit schädigt das Ansehen der Union im Innern und in der Welt. Sie hat aber keine vertragsrechtlichen Instrumente, um die britische Zeitschinderei zu unterlaufen. Daher ist es umso wichtiger, dass der Europäische Rat, als Erstes und ohne den Scheidungsbrief aus London abzuwarten, in einer Art "Vorratsbeschluss" die Leitlinien für die Verhandlungen über die Einzelheiten des Austritts und den Rahmen der künftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur Union festlegt. Er sollte die EU-Kommission umgehend und offiziell mit der Vorbereitung des zeitraubenden Verhandlungsprozesses beauftragen.

Das dient der inneren Festigkeit und zeigt zugleich den Briten, dass ihr Austrittsvotum nicht zur britischen Folklore innerhalb der Union werden wird. Wenn die Bundesregierung stattdessen am Gaukelbild eines Rücktritts vom Austritt zeichnet, macht sie sich zum Komplizen all derer in Britannien und anderswo, die eine Volksentscheidung trickreich umgehen oder einfach missachten wollen. Und sie nährt bei den Briten ebenso wie bei den Bürgern in den Mitgliedstaaten den Verdacht, dass die Union zu klarer Kante nicht fähig sein wird. Das erst könnte den Dammbruch auslösen, der die Union zerstört. Die Bundesregierung darf die Union nicht dazu verleiten, statt über die Modalitäten der Trennung über die Bedingungen des Bleibens zu verhandeln. Dem Austrittspopulismus in den verbleibenden Mitgliedstaaten tritt man nicht mit dem Lobpreis der Union entgegen. Man muss die konkreten Folgen eines Austritts sichtbar machen.

Die Union sollte ohne Ranküne und Rabatt ausschließlich mit dem Ziel verhandeln, den Schaden des Austritts diesseits des Kanals so gering wie möglich zu halten. Um den Schaden auf der anderen Seite werden sich die Briten schon selbst kümmern. Partnerschaft à la Schweiz oder Norwegen ist möglich, aber ein Umbau der Union nach britischen Vorstellungen nicht. Ein Platz im EU-Binnenmarkt? Ja, aber zu den Konditionen der Union. Und das Prinzip der Freizügigkeit ist nicht verhandelbar. Ein Sitz am Ratstisch und im Parlament? Nein, wer draußen ist, kann nicht zugleich drinnen sein.

Eine Chance für den großen Neubeginn der Union ist der Brexit nicht. Im Gegenteil. Seine Spielarten wie Kerneuropa, Rückbau, Ausbau oder Umbau böten der britischen Strategie während des Austrittsprozesses die besten Ansatzpunkte, die Union über den Brexit auseinanderzudividieren. Die Festigung der Union hat Vorrang vor Neukonstruktionen, die den Bürgern herzlich egal sind, solange sie nicht mit einem neuen großen politischen oder gesellschaftlichen Projekt verbunden sind - leider ohne die Europäer von der Insel.

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