Vorwurf des Verfassungsbruchs:Warum Bayern gegen Merkels Flüchtlingspolitik klagen sollte

Angela Merkel

Darf Kanzlerin Angela Merkel wieder die Grenzen für Flüchtlinge öffnen?

(Foto: dpa)

Für den Moment verzichtet Ministerpräsident Seehofer auf eine Verfassungsklage. Doch die Bürger haben Anspruch auf unbedingte Klarheit.

Gastbeitrag von Peter Gauweiler

Der Herr: "Frau Kanzlerin, Ihre Regierung handelt pflichtvergessen, was die Grenzsicherung angeht. Wir sehen uns wieder bei Gericht!"

Die Dame: "Aber nein, wie kommen Sie denn darauf? Wir haben alles richtig gemacht!"

Der Herr: "Gut, dann ist ja alles in Ordnung."

Im obigen Fall wird noch gesprochen, im Falle Seehofer/Merkel und der Deutungshoheit um den rechtmäßigen Weg in der Flüchtlingspolitik schreibt man sich wieder Briefe. Wer schreibt, der bleibt - und so werden nicht nur die Briefkästen von Staatskanzlei und Kanzleramt gefüllt, sondern mit den Briefen auch gleich die Zeitungen. War das vielleicht nur ein Schattenboxen? Bayern steht jetzt vor der Entscheidung, gegen den seit acht Monaten angeprangerten "Rechtsbruch" der Merkel-Regierung nun wirklich zu klagen - ja oder nein?

Anfang September wurde in Deutschland bekanntlich das Verbot der Einreise ohne Aufenthaltstitel oder Pass faktisch außer Kraft gesetzt; ebenso das Verbot der Einschleusung großer Gruppen. Ebenso, dass sich niemand auf das Asylrecht berufen kann, der sich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union aufhält.

Die Schäden sind bekannt, von Köln bis Berlin. Die Erfolge auch. Präsident Obama letzte Woche in Hannover über Kanzlerin Angela Merkel: "Sie steht auf der richtigen Seite der Geschichte." (Dass die USA in den letzten zwölf Monaten nur 2500 Syrer aufgenommen haben, erwähnte er nicht.)

Spätestens seit dem Gutachten des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht, Udo Di Fabio, zur "Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem" ist klar, dass eine mögliche Klage Bayerns gegen das Vorgehen der Bundesregierung Erfolg haben könnte. Im Januar brachte die bayerische Staatsregierung ihre Einwände gegenüber Berlin wie folgt auf den Punkt: "Geltendes Recht wird nicht beachtet. Hinsichtlich der Nichtanwendung des geltenden Rechts wurden Bundestag und Bundesrat zu keinem Zeitpunkt beteiligt. Das europäische Dublin- und Schengensystem ist zusammengebrochen."

Seehofers Drohung, Merkels Antwort

In einem Schreiben an die Kanzlerin vom 26. Januar 2016 drohte der Ministerpräsident eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an, wenn nicht bestimmte Maßnahmen ergriffen werden ("Effektive, eigene Grenzkontrollen", "Anwendung der Drittstaatenregelung, nach der alle aus sicheren Drittstaaten illegal Einreisenden noch an der Grenze zurückzuweisen sind" und "Festlegung einer ,Obergrenze'").

Jetzt liegt die Antwort der Kanzlerin vor. Sie sieht "keinen Raum für den Vorwurf, der Bund habe im Zusammenhang mit seiner Flüchtlingspolitik rechtliche Bindungen nach dem Unionsrecht oder nach nationalem Recht missachtet". Und "die Bundesregierung ist von Rechts wegen nicht auf den Einsatz bestimmter Instrumente beschränkt". Womit die von Bayern als unabdingbar bezeichneten Maßnahmen gemeint und abgefertigt waren.

Trotzdem hat sich die Lage entspannt. Die Sache mit der Obergrenze haben die Länder der Balkanroute für uns erledigt; gegen den offiziellen Protest Berlins. An den Grenzübergängen treffen pro Tag teilweise nicht einmal mehr 100 Menschen ein.

Gut, dann ist ja alles in Ordnung?

Vorwurf des "Unrechtsstaats" - kein Pappenstiel

Drei Gründe sprechen dagegen: Der nächste Ansturm von Menschen, die vor den unerträglichen Zuständen in ihren Heimatländern fliehen, kommt bestimmt. Diesmal werden es weniger Syrer, dafür vermutlich mehr Menschen aus Libyen sein. Verstehen kann man sie sehr wohl. Wer würde nicht seine Familie vor Krieg und Perspektivlosigkeit schützen wollen? Die Rede ist von 60 Millionen Flüchtlingen. Eine fortgesetzte Einwanderung nach Deutschland löst dieses Problem nicht.

Der Verfassungsrechtler Hans-Peter Schneider begründet das "angesichts eines kaum mehr beherrschbaren Zustroms von Flüchtlingen nach Deutschland" so: "Reisefreiheit: Ja, Niederlassungsfreiheit ohne Berechtigung: Nein. Das gilt auch für das Asylrecht . Zum Rechtsstaat gehören Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit. Vor allem verlangt der Rechtsstaat von den staatlichen Organen Rechtstreue und Rechtsgehorsam. Wie soll der einfache Bürger verstehen, dass er sich an Gesetze zu halten hat, wenn er erleben muss, wie der Staat nach der Maxime ,Not kennt kein Gebot!' handelt?"

Hans-Peter Schneider war übrigens Prozessbevollmächtigter der Linken vor dem Bundesverfassungsgericht bei den Klagen gegen die sogenannte Eurorettung.

Peter Gauweiler in München, 2016

Peter Gauweiler, 66, ist Rechtsanwalt in München. Bis 2015 war er Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender der CDU.

(Foto: Robert Haas)

Damit der zweite Fehler nicht dem ersten folgt, ist es manchmal notwendig, zu beweisen, dass dieser erste auch wirklich ein Fehler war. Nach dem Grundgesetz ist jedes staatliche Handeln grundsätzlich gerichtlich überprüfbar. Das Bundesverfassungsgericht ist die zuständige Instanz für Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Bund und den Ländern. So kann sein Urteil (mit Gesetzeskraft) als rechtlicher Maßstab für zukünftiges Handeln gelten.

Es geht um den Vorwurf des Verfassungsbruchs ("Unrechtsstaat"). Das ist kein Pappenstiel. Wenn Bayern sich hätte überzeugen lassen, dass seine rechtliche Bewertung vom Januar falsch ist, soll man es sagen. Wenn nicht - wie offensichtlich der Fall -, liegt hier eine Situation vor, die jede Umkehr verbietet.

Anspruch auf unbedingte Klarheit

Wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet, ist nicht ausgemacht. Aber worauf Bürger, Politik, Verwaltung und Parlamente jetzt Anspruch haben, ist unbedingte Klarheit. Ob sich die Merkel'sche Praxis vom September bei der nächsten "Migrationskrise" - die vor der Haustür steht - rechtlich wiederholen darf oder nicht.

Alle Politik ist Problemlösung. Und so müssten sich alle positiven Energien darauf konzentrieren, den 1,3 Millionen Flüchtlingen, für die Deutschland - zu Recht oder Unrecht - durch Aufnahme die Verantwortung übernommen hat, eine Perspektive zu geben. Dazu gehören eine sofortige Arbeitserlaubnis (wer keine Arbeit findet, soll zu gemeinnütziger Tätigkeit herangezogen werden) und permanenter Sprachunterricht vom ersten Tag an.

In den Städten müssen nach dem Prinzip von Law and Order die "Hausordnungen" wieder eingehalten werden, um die fortschreitenden Verwahrlosungstendenzen zu bekämpfen.

Außenpolitisch dürfen wir nicht den Fehler von Bush wiederholen und uns 1,3 Milliarden Muslime zum Feind machen. Anstatt sich an Kriegsspielereien zu beteiligen, gilt es zum Beispiel in der Region zwischen Marokko und dem Suez-Kanal international das zu tun, was nach dem Zweiten Weltkrieg regional bei uns geschehen ist - es müssen Städte für Migranten und Flüchtlinge gebaut werden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: