Nukleare Aufrüstung:Geheimniskrämerei bei Atomwaffen ist gefährlich

A NATO flag flies at the Alliance headquarters in Brussels during a NATO ambassadors meeting on the situation in Ukraine and the Crimea region

Die Nato sollte ihre Geheimhaltungsvorschriften entrümpeln.

(Foto: REUTERS)

Nato-Mitglieder halten immer noch geheim, wo und wie viele US-Atomwaffen stationiert sind. Hier braucht es mehr Offenheit - wenn das auch die Gefahren nicht beseitigt.

Gastbeitrag von Oliver Meier

Drei Entwicklungen haben jüngst vor Augen geführt, wie riskant nukleare Abschreckung ist.

Erstens: Seit mehr als zwei Jahren steigern nukleare Drohgebärden Russlands das Risiko eines bewaffneten Konflikts in Europa. Die Erklärung von Präsident Wladimir Putin, Moskau habe bei der Besetzung der Krim erwogen, die eigenen Atomwaffen in Alarmzustand zu versetzen, russische Manöver mit Atomraketen und Überflüge von Atombombern lassen die Gefahr eines Rüstungswettlaufs wachsen. Russland setzt angesichts der eigenen militärischen, politischen und ökonomischen Schwäche auf die scheinbar immunisierende Wirkung der nuklearen Abschreckung.

Zweitens: Im Verlauf des Putschversuchs riegelt die Türkei den Luftwaffenstützpunkt Incirlik komplett ab und kappt mehr als eine Woche lang die Stromversorgung. Daraufhin versetzen die USA ihre Soldaten auf der Basis in den höchsten Alarmzustand. Der Bereitschaftsgrad Force Protection Level Delta bleibt bis heute in Kraft. Er wird ausgerufen, wenn ein terroristischer Angriff erfolgt ist oder unmittelbar bevorsteht. In Incirlik stationieren die USA rund 50 Atomwaffen des Typs B 61. Nach dem gescheiterten Putsch verhafteten türkische Sicherheitskräfte den Kommandeur der Basis.

Drittens: Am 18. Juli, nur fünf Tage nach ihrer Ernennung zur Premierministerin, legt Theresa May dem Unterhaus einen Beschluss über die Beschaffung von vier neuen Atom-U-Booten vor. Diese Schiffe sollen von 2030 an die alternden Boote des Typs Vanguard ersetzen und die britischen Trident-Atomraketen rund um die Uhr einsatzbereit halten. Kosten: mindestens 30 Milliarden Pfund. Dabei hat die Regierung sicherheitshalber zehn Milliarden Pfund als Puffer zusätzlich bewilligen lassen. Trotzdem bleiben große finanzielle Risiken, die durch den Brexit noch verschärft werden. Allein der Wertverlust des Pfunds infolge des Referendums schlägt mit drei Milliarden Pfund zu Buche. Das Trident-Programm begrenzt somit den Handlungsspielraum der britischen Regierung.

Die Gefahr neuer Rüstungswettläufe, der Verlust der Kontrolle über Atomwaffen und deren Kosten - darüber wird bei strategischen Debatten meist kaum diskutiert. Einige dieser Gefahren können relativ einfach verringert werden. Für die Stationierung von taktischen Atomwaffen in der Türkei zum Beispiel gibt es keine militärische Notwendigkeit mehr. Ihr Abzug aus dem Krisengebiet - Incirlik befindet sich nur rund 110 Kilometer von der syrischen Grenze - ist überfällig.

Seit dem Kalten Krieg nicht geändert

Auch die seit dem Kalten Krieg nicht wesentlich geänderten Geheimhaltungsregeln müssen angepasst werden. Es ist zweifellos notwendig, bestimmte Informationen über Nuklearwaffen geheim zu halten. Sicherheitsvorkehrungen, die Funktionsweise der Waffen und andere Informationen müssen geschützt werden.

Aber Atomwaffenstaaten erklären fast alle Informationen im Zusammenhang mit ihrem Arsenal zur Geheimsache. In der Nato wird als "streng geheim" eingestuft, was auch nur indirekt im Zusammenhang mit der "nuklearen Teilhabe" stehen könnte, in deren Rahmen vermutlich rund 180 Atomwaffen in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei stationiert sind. Eine Änderung ist schon deshalb schwierig, weil dafür oft ein Konsens aller 28 Allianzpartner notwendig ist.

Eine gründliche, ausgewogene Debatte ist unter diesen Bedingungen kaum möglich. So halten die Nato-Mitglieder nach wie vor geheim, wo und wie viele US-Atomwaffen in Europa gelagert werden. Dabei machen Recherchen unabhängiger Experten wie Hans Kristensen von der amerikanischen Federation of American Scientists beispielsweise die fortgesetzte Stationierung von 20 amerikanischen B 61-Bombern auf dem Luftwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel zu einem offenen Geheimnis. Auch die Folgen der geplanten Stationierung neuer US-Atomwaffen nach dem Jahr 2020 in Europa bleiben unklar. Die Kosten der Anpassung der deutschen Tornado-Kampfbomber an die neuen US-Atomwaffen bleiben ebenso im Dunkeln wie Zeitpunkt und Umfang geplanter Modernisierungsmaßnahmen.

Besonders gefährlich ist die mangelnde Transparenz über Nukleardoktrinen. Atomwaffenstaaten argumentieren, dass Ungewissheit über die nukleare Einsatzschwelle Abschreckung glaubwürdiger macht. Deshalb machen sie allenfalls allgemeine Aussagen darüber, wann sie Atomwaffen einsetzen würden (etwa "zum Schutz vitaler Interessen" oder "wenn das Überleben des eigenen Staates bedroht ist") oder gegen wen sie Kernwaffen nicht einsetzen würden (etwa "Nichtatomwaffenstaaten, die ihre Verpflichtungen unter dem Nichtverbreitungsvertrag erfüllen"). Tatsächlich aber erhöht solcher Mangel an Konkretheit die Gefahr von Fehlkalkulationen in Krisenzeiten. Mehr Offenheit tut not, um eine ausgewogene Debatte über die Vor- und Nachteile von Atomwaffen zu ermöglichen, die Kosten der Aufrechterhaltung der atomaren Abschreckung belastbar benennen zu können und das Risiko von Fehlkalkulationen zu minimieren. Drei Maßnahmen sind sinnvoll.

Vorschriften entrümpeln

Einmal sollte die Nato selbst ihre Geheimhaltungsvorschriften entrümpeln; sie stammen meist noch aus der Zeit des Kalten Krieges. Zugleich sollte die Nato Moskau anbieten, den vertraulichen Dialog über Nukleardoktrinen wieder aufzunehmen. Bis 2013 trug dieser Austausch zur Vertrauensbildung bei. Dann kündigte ihn Russland auf. Jüngst hat Moskau allerdings Interesse an neuen Gesprächen im Nato-Russland-Rat gezeigt. Die Nato sollte testen, wie ernsthaft dies Angebot gemeint ist.

Dann müssen die nationalen Parlamente stärker eingebunden werden. Informationen über nukleare Planungen fließen Parlamentariern meist nur spärlich zu. Die Bundesregierung (wie alle anderen Nato-Regierungen) muss dem Bundestag unter Verweis auf Nato-Geheimschutzregeln Informationen über den Standort von Atomwaffen verweigern. Parlamentarische Debatten verlaufen oft vorhersehbar und floskelhaft, weil den Abgeordneten wichtige Informationen fehlen.

Schließlich könnten alle Staaten, auf deren Territorium Atomwaffen stationiert sind, Informationen über tatsächliche und geplante Ausgaben für diese Arsenale austauschen. Solche Transparenz würde zu mehr Verlässlichkeit beitragen.

All dies wird die Gefahren der nuklearen Abschreckung nicht beseitigen. Mehr Offenheit über Atomwaffen ist aber eine notwendige Voraussetzung, wenn man ausgewogen und informiert über die Rolle von Kernwaffen in der europäischen Sicherheit reden will.

Oliver Meier, 51, ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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