Außenansicht:Fischer macht den Wehner

Der frühere SPD-Vordenker Peter Glotz über den außenpolitischen Wandel des Bundesaußenministers, in dem er den "Abschied von der Idee der Selbstbehauptung Europas" erkennt.

Von Peter Glotz

Die Bundesregierung Schröder/Fischer hat einen außenpolitischen Kurswechsel eingeleitet, der nur mit der berühmt-berüchtigten Wehner-Rede vom 30. Juni 1960 vergleichbar ist. Herbert Wehner drehte damals, ohne jemanden zu informieren oder gar den Vorstand seiner Partei zu fragen, politische Prioritäten um.

Peter Glotz

Peter Glotz

(Foto: Foto: AP)

Er, der noch kurz davor einen Deutschlandplan vertreten hatte, der die Wiedervereinigung vor die Westintegration stellte, schwenkte ruckartig auf Adenauers Westpolitik um. Jetzt macht Joschka Fischer den Wehner.

Fischer, der noch im Jahr 2000 in einer brillanten Rede an der Berliner Humboldt-Universität die "Finalität" eines Europa der Integration und eine "Föderation der Nationalstaaten" verlangt hatte, propagiert in einem Interview in der Berliner Zeitung ein "strategisches Europa" in "kontinentalen Größenordnungen".

Das neue Konzept kommt als Begründung der beabsichtigen (und von den Amerikanern ultimativ verlangten) Aufnahme der Türkei in die EU daher. Es ist aber mehr: ein Abschied von der Idee der Selbstbehauptung Europas, der Verzicht auf ein Europa der engen, irreversiblen Verzahnung und ein eiskalter Wasserguss für Deutschlands wichtigsten Bündnispartner Frankreich.

Fischer wird den Vergleich mit Wehner mögen. Er will so kalt sein, wie der Stratege vom Heiderhof. Aber Wehner handelte (so autoritär und autistisch wie immer) in einer Lage, in der nur noch die Kapitulation Sinn machte.

Fischer gibt zu früh auf. Die EU ist mit 25 Mitgliedern schon arg überdehnt. Unentschieden ist, ob die (meist kleinen) Neuankömmlinge nicht doch nach den Prinzipien des vom Konvent entworfenen Verfassungsvertrags integrierbar sind.

Das würde - vor allem gegenüber Nizza-verliebten Staaten wie Polen und Spanien, aber auch gegenüber prinzipiellen Euroskeptikern wie Vaclav Klaus - eine konsequente Politik der integrationistischen EU-Staaten verlangen. Von der rückt Fischer jetzt ab.

Sprachlich ist der Außenminister auf dem Höhepunkt seiner persuasiven Kraft. Er nennt die Europa-Konzeption Adenauers, Brandts und Kohls "kleineuropäisch". Das ist eine Assoziation zur kleindeutschen Politik im späten 19. Jahrhundert.

Aha, denkt der Paradelinke, der Fischers Interview liest: Bismarck, Treitschke, Nationalismus. So ähnlich verfuhr man beim Streit um die Stammzellenforschung.

"Selektion", riefen einige Protagonisten. Es ging um die Petrischale.Viele Leute aber assoziierten mit dem Begriff die Rampe von Birkenau. Die 68er haben ihr Geschäft gelernt.

Fischers Argumente für seine Bekehrung zu einem Konzept, das eine neuartige Kombination von Freihandelszone und geopolitischer Brücke darstellt, sind nicht überzeugend genug, um einen Politikwechsel von solcher Tragweite zu begründen. Der Außenminister beschwört "heilige Daten" (9.11.89 und 11.9.2001), will Europa an große Staaten (Russland, China, Indien, USA) angleichen und rettet sich in einen Voluntarismus, den man sonst an ihm nicht kennt ("Ein Scheitern können wir uns einfach nicht erlauben").

Mit der inneren Logik seiner eigenen Humboldt-Rede kann es der Außenminister derzeit nicht aufnehmen.

Weder die mitteleuropäische Revolution von 1989 noch der Angriff auf die Twin Towers erzwingt die Abkehr vom Integrationismus. Schon der Big Bang, die Vollmitgliedschaft von zehn Staaten, war keineswegs alternativlos; man hätte das Zusammenwachsen West- und Mitteleuropas auch behutsamer organisieren können.

Wenn man das schon bisher nicht tat, sollte man es in Zukunft tun. Den islamistischen Terrorismus, dem am 11. September 2001 ein symbolischer Schlag geglückt war, muss man bekämpfen, auch in Europa. Aber bitte nicht nach der Methode Bush - und sicher nicht durch eilfertige Veränderungen in der Architektur Europas.

Es ist eine Fehlkalkulation, dass sich das religiös wie sozial motivierte Gewaltpotenzial des Islamismus durch uferlose Erweiterungen der EU stilllegen ließe.

Die EU wird nicht zum großen Spieler, indem sie immer mehr Staaten in sich hineinfrisst. Wer in der Weltliga spielen will, muss handlungsfähig sein, nicht einfach groß. Die Vergleiche mit Russland, China, Indien und den USA führen alle in die Irre. Russland und China werden durch autoritäre Regime zusammengehalten, die wir in der EU ja wohl nicht einrichten wollen.

Indien spielt trotz seiner riesigen Bevölkerungszahl keine weltpolitische Rolle, weil es zu lose zusammengefügt ist. Und die gelungene Integration der Vereinigten Staaten können wir in Europa wegen unserer sprachlich-kulturellen Vielfalt und unserer blutig-kontroversen Geschichte nicht erreichen.

Vielleicht verdauen wir ja Bulgarien und Rumänien noch; pacta sunt servanda. Aber jetzt sollte die EU sich erstmal konsolidieren, statt weiter auf Akquisition zu gehen. Eine Berliner Republik, die sich gegen einen moderaten Anstieg des EU-Haushalts im Jahr 2007 zur Integration der gerade akzeptierten Mitglieder wehrt, sollte mit großeuropäischen Ambitionen vorsichtig sein.

Falls Fischer nur von der leeren Drohung Kerneuropa hätte abrücken wollen, verdiente er Sympathie. Mit diesem Knüppel zwingt man niemanden, den Verfassungsentwurf des Konvents zu akzeptieren. Denn wer gehört zum Kern? Könnte irgendjemand Ungarn oder die Slowakei daran hindern, sich zum Kern zu erklären? Nein.

Und was könnte dieser Kern dann anders machen als die Peripherie? Aber Fischer irrt, wenn er glaubt, dass "die Geschichte die Dinge in die richtige Richtung schiebt". Ach, die Geschichte! Die EU muss vielmehr an einer Lösung arbeiten, die diejenigen Länder, die die Verfassung ablehnen, zuerst einmal in ein Sonderverhältnis, eine privilegierte Partnerschaft bugsiert.

Was Fischer jetzt stolz als Ergebnis eines Lernprozesses präsentiert, ist ein "verbessertes Großeuropa" (Hans-Ulrich Wehler). Es läuft auf einen großen Binnenmarkt hinaus, in dem unterschiedliche Gruppen Unterschiedliches treiben. Um vier Vormächte (vermutlich Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und die Türkei) werden sich vier Einflusszonen bilden.

Die Amerikaner können sich dann aussuchen, mit wem sie welchen Krieg führen und wem sie wie lange böse sind. Innerhalb dieses lose verkoppelten Reichs, in dem der Kaiser (die EU-Kommission) zu wenig zu sagen haben wird, werden immer giftige Balance-of-Power-Spielchen aufkommen.

Auch wenn alle den acquis communautaire (gemeinschaftlicher Besitzstand) akzeptiert haben, wird gelegentlich die eine Vormacht eine Politik des leeren Stuhls praktizieren (de Gaulle) oder schrill schreien "I want my money back" (Maggie Thatcher). Solch ein Europa würde Spielfeld sein, nicht Spieler.

Europapolitisch notwendig sind jetzt nicht hektische Kehren, sondern eine behutsame, vorsichtige Konsolidierung der schon einmal beschlossenen EU-Erweiterung. Wie hieß doch der wohlfeilste europapolitische Spruch der 90er Jahre? "Erweiterung und Vertiefung der EU sind keine Gegensätze, sie bedingen sich gegenseitig". Wenn diese Maxime keine hohle Phrase gewesen sein soll, muss jetzt vertieft werden, nicht erweitert.

(SZ vom 5.3.2004)

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