Außenansicht:Eine Frage der Interessen

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Erhard Eppler, 90, war von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und bis 1992 Mitglied der Grundwertekommission der SPD. (Foto: Stefan Puchner/dpa)

Europa muss mit den USA unter Donald Trump einen Ausgleich suchen - aber auch mit Russland unter Wladimir Putin.

Von Erhard Eppler

Keine 48 Stunden nachdem Donald Trump dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad signalisiert hatte, dass der Friedensprozess für Syrien nicht unbedingt ohne ihn, Assad, stattfinden müsse, ihm also ein Geschenk gemacht hatte, das er seit fünf Jahren ersehnt hatte, kam die Nachricht, dass syrische Flugzeuge ein Kinderheim mit Giftgas angegriffen hätten. In unseren seriösen Zeitungen war immer vom "mutmaßlichen Luftangriff" die Rede, weil es begründete Zweifel an der Nachricht gab, und weil Assad, hätte er dies befohlen, nicht nur ein Verbrecher, sondern ein Idiot sein musste. Denn sofort drehte sich Trumps Syrienpolitik wieder um 180 Grad. Um die "schönen Kinder", die er am Fernsehschirm leiden sah, zu rächen, ließ er 59 Marschflugkörper auf einen syrischen Flugplatz abfeuern.

Das nennt man "postfaktische Politik". Nicht ob etwas wahr ist, gilt, es kommt auf die Gefühle an, die es auslöst. Angela Merkel hat diesen Vergeltungsschlag gebilligt. Das ist erstaunlich, zumal der amerikanische Präsident mit diesem Angriff auch das Völkerrecht verletzt hatte. Denn als sie ihren ersten Besuch bei Donald Trump tapfer lächelnd durchgestanden hatte, sagte sie: "Wir haben beide unsere Interessen vertreten, er die seinen, ich die deutschen." Von der Wertegemeinschaft, die unsere Kanzlerin gerne beschwört, kein Wort mehr.

Außenpolitik ist immer schon der Versuch, mit den unterschiedlichen Interessen sehr verschiedener Staaten zurechtzukommen und dauerhaft widerstrebende Interessen so einzuhegen, dass daraus kein Krieg wird. So hatte schon Otto von Bismarck - jedenfalls von 1871 an - Außenpolitik verstanden.

Außenpolitik wird inzwischen oft zur verlängerten Innenpolitik

Dass sich die Europäische Union als Wertegemeinschaft versteht, schränkt die Souveränität der Mitgliedstaaten ein, die sich bisher jede Einwirkung auf ihre inneren Angelegenheiten verbeten hatten. Gegenwärtig führt dies zu Konflikten mit Polen und Ungarn. Vom Ausgang dieser Konflikte hängt es ab, was aus der Europäischen Union wird. Inzwischen wird die Innenpolitik aller Staaten immer mehr zum außenpolitischen Argument. Dann wird Außenpolitik zur verlängerten Innenpolitik. Man fühlt sich dem Staat verbunden, der einem am ähnlichsten ist. Die gemeinsamen oder widerstreitenden Interessen verlieren an Gewicht.

Ist die Nato eine Wertegemeinschaft? Sie wurde gegründet als Gegengewicht zum kommunistischen Ostblock. Gemeinsame Ideologie war der Antikommunismus. Und dem konnten auch Militärdiktaturen huldigen. Daher kann die Türkei auch mit der neuen Verfassung in der Nato bleiben. Für Donald Trump ist die Nato bestenfalls eines von vielen Instrumenten "to make America great again". Für viele Europäer ist sie nach wie vor ein Schutzschild gegen Russland. Wie notwendig dieser Schutzschild ist, wird in Polen anders beurteilt als in Griechenland, in Litauen anders als in Italien. Die Nato könnte in unruhige Gewässer kommen, falls Trump sie für sein Spielzeug halten sollte.

Was wir - auch als Sicherung gegen postfaktische Politik - brauchen, ist die nüchterne Abgleichung von Interessen. Was Merkel nun gegenüber Trump tun muss, nämlich Interessen vertreten, kann und muss geschehen gegenüber Russland. Wir Europäer können Trump nicht daran hindern, die militärische Überlegenheit der USA durch ein gewaltiges Rüstungsprogramm (plus 54 Milliarden Dollar) weiter zu steigern. Aber wir können uns weigern, ein stupides Wettrüsten mitzumachen, von niemandem provoziert, aber provozierend.

Wenn die Nato auf Dauer funktionieren soll, muss sie auf zwei Säulen ruhen, einer amerikanischen und einer europäischen. Und die europäische muss in der Lage sein, ihre Interessen selbst zu definieren und über europäische Sicherheit selbst zu verhandeln. Dass ein Interessenausgleich mit Russland noch schwieriger sein könnte als einer mit Trumps Amerika, ist kein Grund, ihn nicht zu versuchen. Zu kompetenter Außenpolitik gehört die Fähigkeit, sich in die Schuhe fremder Politiker zu stellen. Versetzt man sich in russische Schuhe, wird die russische Außenpolitik erstaunlich berechenbar.

Vielleicht müssen wir im Westen auch emotional abrüsten

In Russland wirkt bis heute der Überfall nach, den Hitler 1941 befahl. Kaum eine russische Familie, in der nicht bis heute Bilder Gefallener hängen. Dass die Mehrheit der Russen für Putin votiert, rührt daher, dass er das Chaos, in das nach dem Ende des Kommunismus das Riesenreich schlitterte, bezwang, eine neue Ordnung und inneren Frieden erzwang. Putin steht in Russland für Frieden und Ordnung. Er weiß, was er seinem Volk zumuten kann. Ein Krieg gegen den Westen gehört nicht dazu.

Wenn es darum geht, europäische Interessen zu vertreten, so ist die EU schlecht aufgestellt. Wer ist zuständig für den nötigen Interessenausgleich nach Osten? Das Minsker Abkommen wurde möglich, weil niemand in Europa die deutsche Kanzlerin und ihren französischen Partner daran hinderte, sich einfach für zuständig zu erklären. So etwas kann nur einmal gelingen, als Regel taugt es nicht. Da liegt noch viel Arbeit vor uns.

Aber wenn Angela Merkel Anfang Mai nach Moskau fliegt, kann sie Putin fragen, ob er bereit wäre zu einem gründlichen und offenen Gespräch mit der Europäischen Union über gemeinsame und divergierende Interessen, besonders auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Sicherheit, also zu einem schwierigen Gespräch, das mit manchen Unterbrechungen Monate dauern könnte. Angela Merkel ist wohl zu klug, um zu glauben, wer die Krim annektiert, müsse demnächst in Vilnius oder Warschau einrücken. Sie weiß auch, dass es, sogar wenn Putin über die Krim mit sich reden ließe, keine gemeinsame westliche Position gäbe. In Kiew will man die Krim ohne Abstimmung wiederhaben. Kann da ein deutscher Kanzler einfach zustimmen? Soll er eine neue Abstimmung verlangen, mit strengen Bestimmungen? Muss man sich, wenn man das nicht wagt, womöglich doch mit der Realität auf der Krim abfinden?

Vielleicht müssen wir im Westen auch emotional abrüsten. Der russische Präsident ist kein Friedensengel. Aber er kann rational abwägen, was seine Mitbürger wünschen. Putin wird seine Interessen zu vertreten wissen. Aber das wird nicht schwieriger als Merkels Gespräch mit Trump und vor allem seriöser als postfaktische Politik.

© SZ vom 27.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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