Außenansicht:Ein zeitgemäßer Islam

Außenansicht: Lutz Richter-Bernburg, 71, war bis 2010 Ordinarius für Islamkunde an der Universität Tübingen.

Lutz Richter-Bernburg, 71, war bis 2010 Ordinarius für Islamkunde an der Universität Tübingen.

(Foto: privat)

Die muslimische Gemeinschaft kommt um eine kritische Aufarbeitung ihrer Tradition nicht herum.

Von Lutz Richter-Bernburg

Wie alle Religionen muss sich auch der Islam der Moderne stellen. Exakte Naturwissenschaften stellen die Autorität religiöser Welterklärung infrage, Kulturanthropologie und Psychologie, Philologie und Geschichtswissenschaften bieten überlegene Deutungsmodelle an. Auch wenn die wichtigste Funktion der Religion - Sinn- und Trost zu geben - davon unberührt bleibt, gehört doch viel Realitätsblindheit dazu, die Notwendigkeit eines Aggiornamento (wie es Papst Johannes XXIII. nannte) der Religionen zu leugnen. "Verheutigung" bedeutet vor allem die Bereitschaft, sich mit Geschichte und Gegenwart der eigenen Religionsgemeinschaft auseinanderzusetzen.

Die Antworten des Islam auf die Herausforderungen seines Ursprungsmilieus, der Gesellschaft auf der Arabischen Halbinsel im frühen 7. Jahrhundert, waren so wenig gewaltfrei wie dieses selbst. Für die Gegenwart gefährlich wird es dann, wenn aus dem Koran und Mohammeds vorgeblicher Praxis abgeleitete Normen heute mit staatlicher oder nichtstaatlicher Gewalt als unmittelbar gültige Gesetze durchgesetzt werden sollen. Die Normen des Koran sind grundsätzlich subsidiär, sie betreffen nur solche Probleme, deren Lösung für Mohammed einer göttlichen Offenbarung bedurfte. Was in der Gemeinschaft seiner ersten Anhänger so geregelt werden konnte, bleibt unerwähnt. In den Jahrzehnten nach Mohammeds Tod wuchs - besonders wegen der blutigen Konflikte innerhalb der Gemeinschaft der Muslime - das Bedürfnis, für alle denkbaren Situationen dem Koran oder wenigstens dem Leben Mohammeds eine verbindliche Richtschnur entnehmen zu können. Das führte zur Erfindung unzähliger Hadithe, zunächst mündlich überlieferter Clips von Worten und Taten Mohammeds und seiner engsten Gefolgsleute. Die unüberschaubare Zahl der als kanonisch anerkannten Hadithe bleibt voller fundamentaler Widersprüche. Zudem wurden sie über die Jahrhunderte faktisch von einer sekundären, zu einer dem Koran vorgeordneten Offenbarungsquelle, weil sie auch dessen Auslegung dominierten. Aber nicht nur die Hadithe sind widersprüchlich, auch der Koran selbst ist es - so wie die heiligen Schriften anderer Religionen auch. Auflösen lassen sich diese Widersprüche nicht.

Den Terroristen des IS und anderen muslimischen Gewalttätern einfach das Muslimsein abzusprechen, ist ein naheliegender, nicht untypischer Verdrängungsreflex einer verunsicherten Mehrheitsorthodoxie. Dabei können entschlossene extreme Minderheiten auch breite träge Mehrheiten in ihre Richtung ziehen.

Wer bestimmt eigentlich, was genau rechtens ist und was verwerflich?

Erwähnt werden muss hier die nach muslimischem Konsens allen Gläubigen obliegende Pflicht, "das Rechte zu befehlen und das Unrechte zu verbieten"; die Erfüllung dieses Doppelgebots kennzeichnet nach dem Koran eine vorbildliche Gemeinschaft. In der Geschichte wurde es überwiegend an Machthaber delegiert, aber streng genommen gilt es individuell - und kann für die Objekte besagter Aufsicht mit dem Tode enden. Damit erhebt sich die Frage: Wer bestimmt eigentlich, was das Rechte und das Verwerfliche ist? Der Koran bezieht sich hier auf einen unbefragten vorgängigen Konsens. Kann dieser, wenn er denn eindeutig zu erheben wäre, heute noch Gültigkeit beanspruchen?

Damit zur Frage der im Koran so prominent wie widersprüchlich behandelten Rolle der Geschlechter. Der Gleichberechtigung beider Geschlechter als gläubige Individuen steht die eindeutige gesellschaftliche Diskriminierung der Frau gegenüber; die oft zitierte Erlaubnis, widersetzliche Ehefrauen zu schlagen, ist nur ein Beispiel. Interessanterweise wird dieser Vers heute von liberalen Muslimen oft entgegen dem eindeutigen Wortlaut hinweginterpretiert. Grundsätzlich spiegeln die Sexualnormen des Korans vormoderne Verhältnisse wider, in denen frühe Ehen (im Teenageralter, wenn nicht früher), sowie die Verfügbarkeit von Sklaven beiderlei Geschlechts die Regel waren.

Nur Verbohrtheit kann die Notwendigkeit einer Revision derartiger zeitgebundener Sexualnormen leugnen. Dazu stellt sich die Frage nach dem Rollenbild, das hinter dem Gebot der weiblichen Verhüllung steht: Sind gesunde Männer gegenüber dem Anblick weiblichen Haupthaars so bar jeder Selbstkontrolle, dass sie, modern formuliert, reflexhaft übergriffig werden?

Aber Aggiornamento ist vielleicht mehr noch in der Frage der Einhegung und Minimierung von Gewalt schlechthin überfällig. Es kann nicht überraschen, dass der Koran, der nach muslimischem Glauben über zweiundzwanzig Jahre stückweise auf Mohammed "herabgesandt" wurde, dazu widersprüchliche Aussagen macht.

Das Recht auf kollektive Verteidigung oder die sogenannte Anstrengung um Gottes willen (faktisch eben bewaffneter Kampf - man lasse sich nicht durch Jonglieren mit dem Begriff Dschihad täuschen) kann durchaus auch so verstanden werden, dass schon die bloße Existenz nichtmuslimischer Herrschaftsverbände einen Angriff darstellt.

Durch die islamische Geschichte hindurch ist an den ausfransenden Rändern der jeweiligen gemäßigten Mehrheitsorthodoxie immer wieder die Versuchung aufgeflammt, die als ideal-islamkonform geltende Urgemeinde Mohammeds wiederherzustellen. Der Wahabismus, der Mitte des 18. Jahrhunderts im Inneren der Arabischen Halbinsel unabhängig von jeder westlichen Präsenz entstand, ist nur eine weitere, allerdings dank der Petrodollars seit Jahrzehnten besonders virulente, verderbliche Verkörperung dieser Tendenz. Die innere Korrumpiertheit des saudischen Systems ist offensichtlich - ebenso wie der geschichtsvergessene Totalitarismus religiöser Normen und das Fehlen jeder transparenten Kontrolle der Machthabenden in Politik und Religion. Über alle Unterschiede hinweg fehlt effektive Kontrolle auch im republikanisch-theokratischen Iran Khomeinis.

Die historische Größe islamischer Kulturen beruhte immer auf der spannungsreichen Koexistenz widersprüchlicher, konkurrierender Wertsysteme; die wiederkehrenden Versuche, Individuen, Gesellschaft, Staat unter "Islam" zu integrieren, waren und sind zum Scheitern verurteilt, Zwangsbeglückung, die zur horrenden Verschwendung von Leben führt. Nur der Abschied von so hohlen wie in der Konsequenz blutigen Slogans wie "Der Islam ist die Lösung" kann einen Weg nach vorn eröffnen. Die Kreativität, wie sie islamische Gesellschaften in der Vergangenheit gezeigt haben - etwa in Philosophie, Mathematik, Medizin, aber auch im religiösen Denken oder der Dichtung - kann auf Dauer nur in einem freiheitlichen, säkularen System gedeihen.

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