Außenansicht:Ein Bündnis, das schützen kann

Außenansicht: Karl-Heinz Kamp, 60, ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin.

Karl-Heinz Kamp, 60, ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin.

(Foto: oh)

Die Nato braucht eine neue Strategie für den Umgang mit den veränderten Bedrohungen in der Welt.

Von Karl-Heinz Kamp

Mehr als sieben Jahre ist es her, seit die Atlantische Allianz zuletzt ein strategisches Grundlagendokument verabschiedete, im Nato-Jargon "Strategisches Konzept" genannt. Die bis heute gültige Strategie entstand 2010 - zu einer Zeit, als Russland noch als Partner galt, als man im Nahen Osten noch vom Arabischen Frühling träumte und Streitkräfte vor allem als Instrument des Krisenmanagements in Afghanistan und anderswo weitab der Nato-Grenzen gesehen wurden. Präsident Barack Obama hatte zuvor mit seinem Traum von einer nuklearwaffenfreien Welt überall Euphorie ausgelöst.

Heute sieht die Lage anders aus. Die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit Russland geschaffene europäische Friedensordnung existiert nicht mehr - sie wurde Opfer der russischen Aggression in Osteuropa und auf der Krim. Streitkräfte werden wieder primär für die Landes- und Bündnisverteidigung nach Artikel 5 des Nato-Vertrages vorgesehen. Hoffnungen auf Stabilität im Nahen Osten wurden von Bürgerkriegen und islamistischer Gewalt zerstört. Mittlerweile schwelen Konflikte im asiatisch-pazifischen Raum, der internationale Terrorismus ist als Gefahr allgegenwärtig. Zu allem Überfluss regiert in Washington ein Präsident, dessen Kurs gegenüber der Nato man bestenfalls als eigenwillig bezeichnen kann.

Während die Nato auf die neue Bedrohung durch Russland sehr entschlossen mit militärischer Verstärkung in Osteuropa reagiert hat, gibt es bei anderen Fragen noch keinen Konsens unter den 29 Mitgliedern. Konzentriert sich die Nato zu sehr auf Osteuropa, wie die südlichen Mitgliedsländer beklagen, und vernachlässigt dabei die Gefahr jenseits des Mittelmeers? Was kann eine militärische Allianz wie die Nato gegen eine nicht-militärische Bedrohung wie den Terrorismus ausrichten? Kann Nato-Europa es allein den USA überlassen, sich um Konflikte in Asien und Nukleardrohungen Nordkoreas zu kümmern? Wie kann man der europäischen Öffentlichkeit vermitteln, dass die USA für die eigene Sicherheit unentbehrlich bleiben, selbst wenn eine offensichtlich für das Amt ungeeignete Person im Weißen Haus regiert?

Will die Nato geschlossen und handlungsfähig bleiben, muss sie zu diesen und anderen Fragen einen grundsätzlichen Konsens finden. Sie kommt deshalb an einer Strategiedebatte nicht vorbei, an deren Ende ein neues Konzept mit klar definierten Aufgaben stehen sollte. Das ist leichter gesagt als getan. Insider warnen, dass sich die Nato in endlosen Debatten verlieren könnte, die vor allem die Uneinigkeit des Bündnisses zeigen würden. Auch seien solche Strategiedokumente - gerade wenn sie öffentlich zugänglich sind - meist nur Folklore. Der politische Nutzen für die Nato sei daher deutlich geringer als der nötige Aufwand. Warum also Streit riskieren, wenn die Nato offensichtlich auch mit der alten Strategie noch funktioniert?

Sicherheitspolitik muss heute vor einer kritischen Öffentlichkeit begründet werden

Einigkeit in Einzelpunkten zu finden ist in der Tat ein Problem, das die Nato seit ihrer Gründung begleitet. Im Strategischen Konzept von 2010 konnte der damalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen tatsächlich verhindern, dass alles zerredet wird. Statt mit allen Mitgliedern gemeinsam über jedes Komma zu streiten, schrieb er die erste Konzeption der neuen Strategie selbst im kleinen Kreis. In einem straff geführten Diskussionsprozess wurde dieser "Draft" in vergleichsweise kurzer Zeit vollendet. Ein solches Verfahren bietet sich auch für künftige Strategien an. Dass selbst unter solchen Bedingungen gelegentlich Formelkompromisse nötig sind, ist kein Drama.

Der zweite Einwand vom begrenzten Nutzen von Strategiedokumenten verkennt, dass es, anders als im Kalten Krieg, für Sicherheitspolitik einen immer stärkeren Begründungszwang gibt. Gerade wenn sich die Öffentlichkeit stärker für Gefahren von außen interessiert, wird es immer wichtiger, Zusammenhänge zu erklären und für politische Entscheidungen zu werben. Wenn man von den Bürgern die Bereitschaft zur Erhöhung des Verteidigungshaushalts fordert, muss das "warum" klar erkennbar sein. Das gilt umso mehr als moderne Kommunikationsformen wie soziale Medien der Desinformation und den Verschwörungstheorien Tür und Tor öffnen. Russlands ständige Propagandaoffensive ist hierfür das bestes Beispiel. Die Nato kommt also nicht umhin, angesichts der fundamentalen Veränderungen der vergangenen Jahre ihre strategischen Grundlagen an die Realitäten der Artikel-5-Welt anzupassen.

Vor allem die Kernaufgaben des Bündnisses müssen neu justiert werden. Hauptfunktion der Nato ist der Schutz und die Verteidigung ihrer Mitglieder. Anders als früher muss diese erste Kernaufgabe von Abschreckung und Verteidigung aber nicht mehr nur in Reden verkündet, sondern mit leistungsfähigen Streitkräften untermauert werden. Die simple Einsicht, dass hierfür erhebliche Mittel erforderlich sind, sollte auch nicht dem Wahlkampfgetöse zum Opfer fallen. Zweite Kernaufgabe sollte der Export von Stabilität jenseits des Bündnisgebiets sein, entweder durch enge Partnerschaft mit Nicht-Nato-Staaten oder - im Ausnahmefall - durch militärisches Krisenmanagement.

Dritte und grundlegend neue Kernaufgabe wäre die Förderung der Widerstandskraft der Bündnismitglieder. Terroristische Angriffe, Cyberattacken, Desinformation und andere "hybride Bedrohungen" zielen vor allem darauf, Gesellschaften und Regierungen zu destabilisieren. Da sich solche Attacken nicht immer verhindern lassen, muss die Allianz dazu beitragen, die Widerstandskraft ihrer Mitglieder zu stärken. Hier kann die Nato - in Kooperation mit der EU - erheblich dazu beitragen, kritische Infrastruktur funktionsfähig zu halten, Kommunikation zu gewährleisten oder Propagandaaktionen entgegenzutreten.

Ist ein solcher Konsens auf Kernfunktionen mit einem amerikanischen Präsidenten möglich, der Verbündete im Wochenrhythmus abwechselnd beschimpft oder belobigt? Man wird es versuchen müssen, denn das jetzige Amerika ist das einzige Amerika, das die Nato hat. Schließlich sind nicht alle Forderungen aus Washington haltlos. Die Forderung, Europa müsse mehr Geld für die eigene Verteidigung ausgeben, hat nichts mit Rüstungswettläufen zu tun, sondern ergibt sich aus offensichtlichen Mängeln bei europäischen Streitkräften. Auch tragen die USA immer noch die militärische Hauptlast und haben ihre Streitkräfte in Osteuropa sogar verstärkt.

Wenn die Nato beim geplanten Gipfeltreffen 2018 ein neues Strategisches Konzept in Auftrag gibt, könnte es 2019 fertig sein - in dem Jahr, in dem die Allianz ihr 70-jähriges Bestehen feiert.

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