Außenansicht:Die Zerreißprobe

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Jeremy Adler, 70, ist britischer Dichter und war Professor für Deutsche Sprache am King's College London. (Foto: privat)

Der Brexit hat die britische Gesellschaft gespalten, das Land könnte er zerstückeln - so wie es einst König Lear getan hat.

Von Jeremy Adler

Als man die Briten befragte, ob sie noch länger in der EU bleiben wollten, hatte wohl niemand daran gedacht, dass es einmal um den Bestand Großbritanniens gehen könnte. Das Plebiszit wurde als Entscheidung zwischen Britannien und Europa gesehen. Der Staat sollte die Souveränität zurückgewinnen. Kontrolle war das Motto der Stunde. Doch das Ergebnis hat das Parlament, die Regierung und selbst die Verfassung gleichermaßen erschüttert.

Die Regierung ist paralysiert, gerade einmal sechs Ministerien sind wirklich arbeitsfähig, darunter das Außenamt und das Finanzministerium. Die anderen wirken wie gelähmt, sie müssen für den Brexit planen, ohne zu wissen, was der Brexit eigentlich heißt. Kurz gesagt: Der britische Staat ist derzeit nicht funktionsfähig. Es fehlt ein Plan für das, was der Ökonom John Maynard Keynes 1919 "die wirtschaftliche Erholung" des Landes nannte.

Die Krise zeigt sich allerorten: Die einst stolze Wirtschaft ist nun die schwächste der EU. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt in Armut. Und die Zahl der Obdachlosen wächst, in sieben Jahren um 170 Prozent. Auch das Rechtssystem ist betroffen: Noch als Innenministerin erfand Theresa May das "hostile environment", ein Programm von fragwürdiger Legalität, um Einwanderer loszuwerden. Bis dahin wurde eine solche Terminologie für Krisengebiete verwendet, die für Zivilisten zu gefährlich sind. Seit dem Brexit-Entscheid wird das Programm verstärkt angewendet, seit Juni 2017 wurden über 5300 EU-Bürger vertrieben. Familien wurden auseinandergerissen, die Menschenwürde, so scheint es, hat im britischen Recht keine Heimat mehr.

Die überwölbenden Ideen, die die Brexiters verwirklichen wollen, stammen zum Teil von Edmund Burke, dem Begründer des Konservatismus. Also von 1790. Wenn es um den Kitt einer Gesellschaft ging, vertraute Burke nur auf Traditionen, auf Sitten und Gebräuche. Bündnisse, wie die EU heute, waren dem Staatsphilosophen zutiefst suspekt. Schon im Europa der Aufklärung witterte er eine durch kommunale Ideen konstituierte Republik. Doch solch abstrakte Ideen führten seiner Meinung nach nur zu Zwistigkeiten. Burke empfahl stattdessen, sich an das Bewährte, an das Gewachsene zu halten.

Dabei haben jene Brexiters, die das Volk in eine rosige Zukunft führen wollen, nur vergessen, dass Britannien inzwischen fein verästelt mit dem Kontinent verwachsen ist. Straßen, Schulen, Schwimmbäder und über 17 000 Arbeitsplätze in Wales (wo man gegen Europa stimmte) sind mit EU-Geldern finanziert worden; 420 Millionen Pfund für den Nordosten (wo man ebenfalls für den Brexit stimmte) stammen aus Brüssel. Wie soll es weitergehen mit all diesen Projekten, wenn das Geld aus Europa nicht mehr kommt? Ferdinand Mount, Autor und einst Berater der Premierministerin Margaret Thatcher, sagt es so: Großbritannien ist so mit Europa verwachsen, dass der Versuch, sie aufzulösen, wirklich zu einer Zerreißprobe führt.

Selbst ein Treffen auf dem Landsitz der Premierministerin führte zu keiner Einigkeit

Dies zeigt sich auch in der Politik, die vollkommen zerklüftet ist. Schon die Premierministerin ist sich nicht mit sich selbst einig. Sie betreibt zwar den Brexit, doch bei der Abstimmung hatte sich May noch für den Verbleib ausgesprochen. Auch ihr Kabinett ist gespalten, es zerfällt in zwei Lager. Während einer Debatte zum Brexit äußerten ihre Minister ihre Meinungen derart durcheinander, dass May ein hartes Rederegiment einführte. Doch auch das änderte nichts an dem Chaos in der Regierung. Selbst ein später anberaumtes Treffen auf dem Landsitz der Premierministerin brachte kein brauchbares Ergebnis.

Der Kern des Problems ist, dass viele Brexiters das Beste von beiden Welten wollen. Sie wollen die Zollunion erhalten, aber die Nachteile des Binnenmarktes - Zahlungen an Brüssel, Zuwanderung - vermeiden. Dafür kann die Regierung keine Linie finden, einfach, weil es diese Linie nicht gibt. In ihrer bizarren Rede über die Zukunft Großbritanniens plädierte May sowohl für als auch gegen Europa, hielt aber am Brexit fest. Die seit Langem geschwächte Premierministerin zeigte sich wieder einmal als Geisel der Brexit-Extremisten.

Als wäre das nicht schon kompliziert genug, verwarf das Oberhaus im Grunde den Gesetzesentwurf, mit dem die Regierung den Abschied von der EU organisieren wollte. Das Votum des Oberhauses ist zwar nicht bindend, aber der Einspruch war so lautstark, dass er dennoch wirkte. Selbst die Opposition von der Labour-Partei weiß nicht, was sie will. Mühselig hat sie sich einen Standpunkt erarbeitet, sie möchte eine Zollunion. Offen aber ist, ob die Basis das auch so sieht.

Die Briten, eigentlich als Pragmatiker bekannt, zeigen sich in der Frage des Brexit als Romantiker. Ihren Realitätssinn haben sie gegen Ideologie getauscht, denn fast jeder auf der Insel weiß inzwischen, dass der Brexit rational Unsinn ist. Es herrscht, was der Begründer der modernen Staatstheorie Thomas Hobbes 1651 "das Reich geistiger Dunkelheit" nannte. Jetzt haben sich sogar zwei einstige Gegner, der ehemalige Konservative Premier John Major und der Sozialist Tony Blair, zusammengetan, um einen Plan zu entwickeln. Dabei geht es um nicht weniger, als den Bestand Großbritanniens zu erhalten.

Ein Politiker, der das Volk betrügt, darf nicht als unschuldig gelten, bloß, weil er kein Gesetz verletzt hat - so argumentiert Jonathan Swift in seinem Aufsatz "Die Kriminalität der letzten Regierung von 1711". Diese Regel ließe sich auch auf den Brexit übertragen. Die Versprechungen, die gemacht wurden, sind mit Lügen gespickt, das Volk wurde wissentlich getäuscht. Oder wie anders ist die Aussage zu deuten, die Ersparnisse aus der EU-Mitgliedschaft würden verwendet, um dem Gesundheitswesen wöchentlich 350 Millionen Pfund zuzuführen? Auch das "Global Britain" war eine solche Lüge, ein reiches, egalitäres, souveränes Schlaraffenland ohne EU. Tatsächlich verspricht sich inzwischen nur noch ein gutes Zehntel der Lokalregierungen etwas Gutes vom Brexit.

Regionen wie Edinburgh befinden sich bereits in einem Machtkampf mit London, denn sie wollen lieber direkt mit Brüssel verhandeln. Auch Wales hat dafür gestimmt, seinen eigenen Weg zu gehen. Besonders riskant ist die Situation in Nordirland. Die Administration dort ist zur Zeit des Amtes enthoben. Findet die britische Regierung für das Verhältnis zu Irland nach dem Brexit keine vernünftige Lösung, vor allem dafür, wie die Grenzen geregelt werden, dann droht dort Gewalt.

Am Ende des Brexit könnte dann statt eines entfesselten Großbritanniens ein vielfach aufgeteiltes Land stehen. Zerstückelt, wie einst König Lear sein Reich zerstückelt hat.

© SZ vom 24.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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