Außenansicht:Die Reformation neu sehen

Außenansicht: Lucian Hölscher, 67, ist Inhaber der Hans-Blumenberg-Gastprofessur für Religion und Politik am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster.

Lucian Hölscher, 67, ist Inhaber der Hans-Blumenberg-Gastprofessur für Religion und Politik am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster.

(Foto: privat)

Wie Protestanten und Katholiken das Luther-Jahr 2017 feiern sollten.

Von Lucian Hölscher

Am 31. Oktober 2017 wird die Reformation 500 Jahre alt. Daher werden sich im kommenden Jahr die Christen in Deutschland daran erinnern, was dieses Ereignis eigentlich für sie und die moderne Gesellschaft bedeutet: Erneuerung des Glaubens oder Zerfall der Kirche? Gibt es überhaupt etwas zu feiern, und wenn ja, was? Oder muss man nicht eher Trauer tragen über die Glaubensspaltung und den Blutrausch, den sie im Dreißigjährigen Krieg auslöste?

Die Meinungen unter Katholiken und Protestanten gehen bis heute auseinander. Schon die früheren Reformationsfeiern waren überschattet vom Streit der Konfessionen: 1617 und 1717 wurden sie begangen im triumphalen Trotz des erfolgreichen Widerstands, 1817 und 1917 in der Sehnsucht nach der deutschen Einheit und im Stolz auf die kulturelle Leistung der Deutschen. Mit ihnen machten sich die Protestanten wenig Freunde. 2017 sollen sie daher anders ausfallen: weltoffener und im Geist der Versöhnung.

Die Chancen dafür stehen eigentlich nicht schlecht. Noch nie lebten Katholiken und Protestanten in Deutschland so friedlich miteinander. Noch nie haben es die Historiker so wie heute verstanden, die Beiträge beider Konfessionen zur Modernisierung von Staat und Gesellschaft herauszuarbeiten. Wäre da nicht immer wieder die Gefahr des Rückfalls in alte Denkmuster, vor dem vor allem die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) auch in ihren neuesten Stellungnahmen zum Jubiläum nicht gefeit ist. Etwa die von Max Weber in die Welt gesetzte Legende von den protestantischen Wurzeln des Kapitalismus oder die von der größeren Nähe des Protestantismus zur Demokratie, an die auch viele säkular Gesinnte heute noch glauben.

Auch im theologischen Wettstreit mit der katholischen Kirche setzt die EKD, trotz vieler Lippenbekenntnisse zur ökumenischen Zusammenarbeit, 2017 eher auf Abgrenzung und Selbstprofilierung statt auf das Interesse am Gemeinsamen: Als Alleinstellungsmerkmale protestantischer Glaubensidentität propagiert sie Formeln wie "allein Christus" (solus Christus) oder "allein aus der Gnade Gottes" (sola gratia) - so, als ob nicht auch die Katholiken Christus als ihren alleinigen Herrn bekennen würden; und als ob sich der Streit, wodurch der Mensch vor Gott gerechtfertigt wird - durch seine guten Werke oder durch Gottes Gnade - nicht längst schon in ein "sowohl als auch" aufgelöst hätte.

Protestantische Reformation und katholische Reform gehören zusammen

Was war die Reformation? Sicher mehr ein staatspolitisches als ein frömmigkeitsgeschichtliches Ereignis. Der damalige Zusammenschluss protestantischer Fürsten und Städte ließ dem einzelnen Bürger allerdings kaum Raum zur freien Wahl seines religiösen Bekenntnisses - anders als heute. In seiner Glaubenspraxis ging es ihm vor allem um Freiheit von klerikalem Druck und Teilhabe der Laien an kirchlichen Entscheidungen - keinesfalls aber um protestantische Identitätspolitik. Vieles, was später als typisch katholisch wahrgenommen wurde, etwa die Ohrenbeichte oder das Knien beim Gebet, wurde im 16. und 17. Jahrhundert auch noch in protestantischen Gottesdiensten praktiziert. Erst die Aufklärung im 18. Jahrhundert brachte in der Geschichte der Glaubenspraxis die große Wende mit ihrer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Konfessionskulturen. Wenn überhaupt, dann liegt also dort die historische Zäsur.

Die politischen und religiösen Anliegen der Reformation sind uns heute viel fremder geworden, als es in Predigten und Geschichtsbüchern oft den Anschein hat. Das meiste, vor allem der Kampf gegen klerikale Bedrückung und für die freie Betätigung des eigenen Glaubens, ist veraltet, die alte Frontstellung zwischen den Kirchen daher überholt. Auch ist es vermessen, die Reformation, wie bei Protestanten bis heute zu hören, als Geburtsstunde der modernen säkularen Gesellschaft zu feiern: Galt doch etwa die Gleichheit der Menschen vor Gott immer nur für Christen, nicht, wie heute mit Recht gefordert, auch für Juden, Muslime oder andere "Heiden". An der Entstehung der modernen säkularen Gesellschaft waren außer Christen auch Juden, Humanisten und Freigeister beteiligt.

Damit soll der Ernst der Glaubenskämpfe an der Schwelle zur Neuzeit nicht bestritten werden. Tatsächlich ging es den Aufständischen - und dann auch denjenigen, die am alten Glauben festhielten - damals um den Kern ihrer Existenz, für den sie oft genug auszuwandern oder sogar zu sterben bereit waren. Das fordert unseren Respekt bis heute. Auch wäre es ganz verfehlt, diesen Kern, wie unter Historikern üblich, allein in den politischen und sozialen Anliegen der Zeitgenossen zu sehen. Die religiösen Symbole, um die es ging - etwa der Ablass der Sünden oder die Einnahme des Abendmahls in Brot und Wein - verweisen nicht nur auf eine äußere Realität, sie bilden selbst eine Realität in sich - ganz gleich ob sie heute noch verstanden werden oder nicht. Aber der Stellenwert der religiösen Symbole hat sich geändert. Ihre unterschiedliche theologische Deutung kann keine existenziellen Differenzen mehr zwischen den Kirchen begründen.

Als existenzieller Glaubenskampf ist die Reformation also obsolet geworden. Aufgabe der Kirchen ist es, die Wunden zu heilen, die die Reformation geschlagen hat - etwa in der wechselseitigen Anerkennung des eigenen Unrechts und in der Aufarbeitung der wechselseitigen Vorurteile. 2017 wäre dafür ein geeignetes symbolisches Datum.

Darüber hinaus kann das Jahr aber auch der Erinnerung an die gemeinsamen Grundlagen der reformatorischen Aufbrüche in allen Konfessionen dienen: nicht nur derjenigen Martin Luthers und seiner protestantischen Mitstreiter, sondern auch derjenigen katholischer Reformatoren wie Ignatius von Loyola. Protestantische Reformation und katholische Reform gehören zusammen, sie bilden nur verschiedene Seiten des einen reformatorischen Aufbruchs an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, als der Mensch in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung, Christus ins Zentrum der Gottesverehrung trat. "Devotio moderna", moderne Frömmigkeit nennen sie mit Recht die Gelehrten.

Eine solche neue Lesart der Reformation eröffnet einen gemeinsamen Erinnerungsraum für das Reformationsjubiläum 2017. Sie hilft auch, der Reformation ihre provinzielle Beschränktheit auf Wittenberg, Zürich und Genf zu nehmen, die sie in der protestantischen Lesart des 19. Jahrhundert gewonnen hat. Italienischer Humanismus, französische Religionskritik und spanische Spiritualität waren ebenso Teil des reformatorischen Aufbruchs wie der deutsche Kirchenkampf. Erst so gesehen wird aus der Reformation ein wirklich welthistorisches Datum.

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