Außenansicht:Die Geschichte der Sprache

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Bernard-Henri Lévy, 68, ist Journalist und Publizist. Er war einer der Gründer der Bewegung Nouveaux Philosophes (Neue Philosophen) in Frankreich. Copyright: Project Syndicate, 2017.

(Foto: Patrick Kovarik/AFP)

Was Amerika von dem Schriftsteller Philip Roth lernen kann: Wer die Vergangenheit ignoriert, den holt sie ein.

Von Bernard-Henri Lévy

Am Tag von Donald Trumps Amtseinführung traf ich Philip Roth. Dies war eine surreale Erfahrung, da der Schriftsteller in seinem Roman "Verschwörung gegen Amerika" aus dem Jahr 2004 genau den finsteren und gruseligen Albtraum beschreibt, den die Vereinigten Staaten gerade erleben. Wir trafen uns in Roths Wohnung in Manhattan, die voller Bücher steht und wohin er nach dem Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn gezogen war. Am Morgen hatte Roth ferngesehen und, wie viele andere Amerikaner, die verblüffenden Bilder von dem lärmenden, übergroßen Baby gesehen, das mit seinen kleinen erhobenen Fäusten das US-Establishment, das amerikanische Volk und die Welt beleidigte.

Wie seine Leser wissen, hat der Verfasser von "Verschwörung gegen Amerika" eine besondere Schwäche für literarische Heldinnen. Also sprachen wir über Melania Trump, die neue First Lady, die während der Zeremonie einen merkwürdig abwesenden Eindruck machte. War dies ein Zeichen großer Klarheit? Sahen wir den Blick einer Frau, die die Katastrophen, die uns noch bevorstehen, genau kennt? Oder ist sie einfach nur das schönste Mädchen auf der Party - das von einem gierigen Jugendlichen zum Tanz aufgefordert wurde und sich nun an ihn klammert?

Die Welt schreibt jetzt gemeinsam an einem neuen Roman. Roth brachte die tragischen und komischen Elemente dieses Vorgangs auf den Punkt, und wir sprachen über die Mächte, die in der Lage sein könnten, der dunklen Flut der Gemeinheit und Gewalt unter Trump die Stirn zu bieten.

Da sind zunächst die souveränen Bürger, die in allen großen Städten des Landes auf die Straßen gingen, da sie wussten, dass gemessen an der eigentlichen Zahl der Wählerstimmen nicht Trump die Wahl gewonnen hatte. Zweitens sind da einige Republikaner, die wissen, dass sich Trump, der ehemalige Demokrat und heutige Populist, gemeinsam mit der ehrwürdigen Republikanischen Partei, die er als Sprungbrett zur Macht missbraucht hat, in einem Kampf um Leben und Tod befindet.

Eine dritte Kraft ist die CIA, deren Hauptquartier Trump einen Tag nach seiner Amtseinführung einen Besuch abstattete. Er baute sich vor der dortigen Gedenkstätte auf - in der die Namen von 117 Agenten eingraviert sind, die im Dienst getötet wurden - und statt die Gefallenen zu erwähnen, inszenierte er eine groteske und infantile Selbstbeweihräucherung über die Anzahl seiner Unterstützer, die nach Washington gekommen waren, um seinen Amtsantritt zu feiern.

Auch werden die amerikanischen Geheimdienste nicht vergessen, dass Trump im Fall der russischen Hacker, die die Wahl zu seinen Gunsten beeinflusst haben, ihre Ermittlungsergebnisse angezweifelt hatte. Ich fragte Roth, ob er es nicht für merkwürdig hielt, dass die größte Demokratie der Welt sich nun auf eine so illustre Kombination von Kontrollmechanismen verlassen muss. Das eigentlich Merkwürdige, antwortete er mit einem Lachen, sei dieser neuartige Zustand aufgeschobener Proteste, für die der unmögliche neue Präsident verantwortlich sei.

Angesichts dieser Widerstände von innen könne es passieren, dass Trump sogar noch kürzer im Amt sein wird als die Hauptfigur in "Verschwörung gegen Amerika". Natürlich gibt es zwischen Roths Roman und der heutigen Lage Unterschiede. Roths Geschichte spielt im Jahr 1940 und beschreibt den heldenhaften Piloten und Nazi-Sympathisanten Charles Lindbergh, wie er über den amtierenden Präsidenten Franklin Delano Roosevelt triumphiert. Und Lindbergh war ein erklärter Antisemit.

"Amerika zuerst" - erstaunlich, dass dieser Slogan nicht bei allen Übelkeit auslöst

Trump verwendet eine Rhetorik, die an Mussolini erinnert. Und er hat sich mit den schlimmsten populistischen Politikern von der anderen Seite des Atlantiks solidarisch erklärt, von Nigel Farage und Viktor Orbán bis hin zu Marine Le Pen und Wladimir Putin.

Und dann ist da der Slogan "Amerika zuerst". Es ist erstaunlich, dass diese Worte nicht über das ganze politische Spektrum der USA hinweg Übelkeit verursacht haben. Immerhin war "Amerika zuerst", wie jeder Amerikaner weiß, der über ein Minimum an historischem und politischem Wissen verfügt, im Jahr 1940, während Lindberghs Zeit, die Parole der amerikanischen Nazi-Sympathisanten. Sie war die feindselige Reaktion auf diejenigen in den USA, die Widerstand gegen Hitlers Deutschland leisten wollten. Der Slogan wurde verwendet, um die jüdischen "Kriegstreiber" zu denunzieren, die beschuldigt wurden, ihre eigenen Interessen über diejenigen der Nation zu stellen.

Und diese Worte, die Trump auf den Stufen des Kapitols wiederholte, haben Leute wie den ehemaligen Ku-Klux-Klan-Führer David Duke dazu bewogen, sich die Maske herunterzureißen und zu jubeln: "Wir haben es geschafft!" Dies alles ist Trump bekannt; wenn er damit konfrontiert wird, antwortet er, dass er nicht in die Vergangenheit schaut, sondern in die Zukunft.

Aber in diesem Spiel gibt es nur zwei Mannschaften: Nihilisten ohne Gedächtnis und diejenigen, die wissen, dass Sprache eine Geschichte und damit einen Wiedererkennungswert hat. Die erste Mannschaft denkt, ein Redner könne in einer einzigen Rede wiederholt eine Parole der weißen Überlegenheit verwenden, ohne dabei böse Hintergedanken zu haben; die zweite Mannschaft weiß, dass die Genealogie der Worte nicht ignoriert werden kann, ohne dass die Vergangenheit Rache nimmt.

Trump, ein möglicher Verbündeter der widerwärtigsten und meistgehassten Demagogen unserer Zeit, wird weltweit abgelehnt. Beachten wir aber die folgende besonders seltsame und finstere Wendung: Der unbeliebteste Präsident Amerikas hat kurz nach seiner Amtsübernahme mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu telefoniert und dabei seine Sympathie für genau die Menschen entdeckt, deren Vorfahren sein fiktionaler Vorgänger als Untermenschen betrachtete.

Hoffentlich sind die Empfänger von Trumps plötzlicher Zuneigung gegenüber diesem neuen Freund ebenso wachsam wie gegenüber ihren Feinden. Mögen sie nie vergessen, dass Israels Schicksal eine zu ernste Sache ist, um als Vorwand für einen impulsiven, unkultivierten Abenteurer zu dienen, der seine Autorität oder seine angeblichen Verhandlungsqualitäten zur Schau stellen möchte.

Und möge ihnen das in Roths Roman beschriebene Dilemma erspart bleiben, zwischen zwei gleichermaßen schrecklichen Schicksalen wählen zu müssen: dem des Opfers Winchell oder dem der willigen Geisel Bengelsdorf. Amerika hat noch nicht genug von Philip Roth gelesen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.

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