Außenansicht:Der vergessene Nachbar

Außenansicht: Klaus Hanisch, 57, arbeitet als Journalist und Buchautor in Mainfranken und Prag.

Klaus Hanisch, 57, arbeitet als Journalist und Buchautor in Mainfranken und Prag.

(Foto: privat)

Viele deutsch-tschechische Institutionen sind am Ende. Das schadet den Beziehungen beider Länder immens.

Von Klaus Hanisch

Es war im vergangenen Januar, da blickte Kanzlerin Angela Merkel "mit Dankbarkeit und Stolz" auf den 20. Jahrestag der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997 über die gegenseitigen Beziehungen zurück. Und dies ungeachtet des anhaltenden Streits darüber, dass die tschechische Regierung weiterhin keine Flüchtlinge in Kontingentstärke aufnehmen will. Die Flüchtlingsfrage hatte den Beziehungen zum östlichen Nachbarn zuletzt sichtbare Kratzer zugefügt.

Ohnedies ist das deutsch-tschechische Verhältnis noch immer eine äußerst sensibles Angelegenheit. Bis heute haben die Gesellschaften in beiden Ländern weder die Gräuel von Nazi-Deutschland in der damaligen Tschechoslowakei noch die folgende Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen vergessen, wobei in Tschechien die Geschichte noch deutlich präsenter ist als in Deutschland. Ein Überbleibsel ist der Begriff "Tschechei", den viele Deutsche für den Nachbarn verwenden. Trotz seiner negativen Konnotation übernehmen ihn seltsamerweise viele Tschechen, wenn sie deutsch sprechen. Wohl wissend, dass ihre Landsleute damit die Schrecken der NS-Herrschaft über ihre Nation verbinden.

Der kleine Nachbar fühlt sich oft minderwertig gegenüber dem großen Deutschland. Möglicherweise weil deutsche Spitzenpolitiker die tschechische Hauptstadt noch nie weit oben auf die Liste ihrer (Antritts-)Besuche setzten. Sicher aber dann, wenn der tschechische Ministerpräsident seinem Volk verkündet, sich jede Woche stunden-, wenn nicht tagelang mit dem beschäftigen zu müssen, was in Berlin entschieden wird.

Zudem bestehen diesseits und jenseits der Grenze Vorurteile weiter. Grundsätzliche, die bei Tschechen in die latente Furcht vor politischer und wirtschaftlicher Bevormundung durch Deutschland münden. Und die bei Deutschen kein oder nur peripheres Interesse am Nachbarland wecken.

Aber auch ganz banale. So hält eine erstaunlich große Zahl von Tschechen alle Deutschen prinzipiell für reich. Umgekehrt hegen Deutsche permanent ein diffuses Gefühl von Skepsis und Misstrauen gegenüber Tschechen. Fraglos auch, weil diese von Drehbuchschreibern in deutschen Fernsehkrimis fortlaufend zu Opfern oder Tätern gemacht werden. Kaum eine Rolle spielt hingegen, dass die Tschechische Republik schon seit vielen Jahren ein gleichwertiger Partner in der EU, der Nato und in anderen internationalen Organisationen ist.

Außerdem gibt es weit weniger deutsch-tschechische Städtepartnerschaften als deutsch-französische, obwohl Deutschland mit keinem fremdsprachigen Nachbarn eine längere Grenze hat als mit der Tschechischen Republik. Das oft dafür als Ursache genannte Sprachproblem allein kann es nicht sein, denn Französisch ist auch nicht einfacher als das zugegebenermaßen komplizierte Tschechisch.

Die Prager Zeitung galt einmal als Leuchtturm einer freien und offenen Gesellschaft

Es sei an der Zeit, dass "nicht mehr gefragt wird, warum ich Tschechien als guten Nachbarn anspreche, sondern dass dies - wie mit Österreich und der Schweiz - als völlig normal empfunden wird", befand Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer vor wenigen Jahren in einem Interview der Prager Zeitung. Diese bemerkenswerte Zeitung ist ein Gradmesser für den Zustand der deutsch-tschechischen Beziehungen. Exakt 25 Jahre lang, bis Ende 2016, informierte dieses Wochenblatt - vielleicht das wichtigste deutschsprachige Medium im fremdsprachigen Ausland - über hohe Politik ebenso wie über kleine Bürgerinitiativen, mithin über alle wichtigen Aspekte des gegenseitigen Verhältnisses. Bundestagspräsident Norbert Lammert zeichnete die Zeitung 2012 mit dem Ehrenpreis der "Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland" aus. In Tschechien nannte sie Kulturminister Daniel Herman gar einen "Leuchtturm der freien und offenen Gesellschaft".

Als der Zeitung nach der Finanzkrise 2009 jedoch immer mehr Anzeigenkunden wegliefen, galt sie plötzlich nicht mehr als die Völker verbindender Kulturträger, sondern als rein kommerzielles Unternehmen. Dabei hätte das tschechische "Hilfsprogramm zur Verbreitung von Informationen in Sprachen von nationalen Minderheiten" helfen können. Oder das deutsche Institut für Auslandsbeziehungen, das vom Auswärtigen Amt getragen wird. Dort wurde aber nur konstatiert, dass die Zeitung eine "neue Minderheit nach 1989" bediene und nicht eine "historische Minderheit". Darauf muss man erst einmal kommen.

Neben der Prager Zeitung brechen derzeit immer mehr für die deutsch-tschechischen Beziehungen unverzichtbare Kulturträger weg. Nachdem schon 2010 das Tschechische Zentrum in Dresden schließen musste, wurde kürzlich bekannt, dass auch das "Festival Mitte Europa" nach einem Insolvenzantrag 2016 definitiv keine Zukunft mehr hat. Zu gering waren die Zuschüsse, um die steigenden Kosten für die in vielen Kommunen Sachsens, Bayerns und Böhmens organisierten Veranstaltungen weiter bewältigen zu können.

Fehlen wird künftig zudem die Brücke/Most-Stiftung (das tschechische Wort Most bedeutet "Brücke"). Tausende kamen zu ihren Kulturtagen in Deutschland und Tschechien, hundertfach brachte sie Schüler an sächsischen und tschechischen Schulen mit Zeitzeugen des Holocaust und ehemaligen Zwangsarbeitern zusammen. Doch genau zum 20. Jubiläum kommt das Aus. Wegen der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank reichen ihre Erträge nicht mehr aus, interministerielle Hilfe wurde am Hauptsitz in Dresden nicht gewährt. Tschechien zog sich mit dem Hinweis zurück, dass Brücke/Most eine deutsche Einrichtung sei.

Nun will niemand (mehr) sehen, dass die Stiftung mit ihrer vielfältigen Arbeit durchaus öffentliche Aufgaben erfüllte - weshalb subsidiäre Hilfe angebracht gewesen wäre. Vermutlich funktionierten Brücke/Most und Prager Zeitung zu selbstverständlich, um von Politik und Wirtschaft noch als außergewöhnlich wahrgenommen zu werden. Und zu lange, um ihre finanziellen Nöte noch zu erkennen.

Es ist zu fürchten, dass sie nicht die Letzten bleiben werden, die schließen müssen. Auch andere können ohne Sponsoren nicht existieren. Ein Beispiel ist das Prager Literaturhaus, das seit 2004 das Erbe der deutschsprachigen Literatur in Böhmen und Mähren pflegt - und schon jetzt Jahr für Jahr um genügend Geld kämpfen muss. "Der Geist der Deutsch-Tschechischen Erklärung wurde und wird gelebt", urteilte Kanzlerin Merkel zu Jahresbeginn. Das darf man getrost bezweifeln, wenn Initiativen, die diese deutsch-tschechischen Beziehungen mit Inhalt erfüllten und wirklich lebten, reihenweise ihren Geist aufgeben.

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