Außenansicht:Das Elend mit den Referenden

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Mario Fortunato, 58, ist Schriftsteller. Er lebt in Italien und in Großbritannien. Aus dem Italienischen von Jan Koneffke. (Foto: Rino Bianchi)

Parlamentarier sollten arbeiten und nicht erwarten, dass die Bürger die Probleme lösen.

Von Mario Fortunato

Schweizer mögen imstande sein, auch noch über die Farbe von Pullovern einen Volksentscheid anzuberaumen. Bei mir dagegen wachsen die Zweifel an diesem Instrument. Es scheint mir mehr und mehr Unheil zu stiften. Mag es sinnvoll sein, einen Normalbürger wie mich über Fragen abstimmen zu lassen, die das konkrete Leben jedes Einzelnen betreffen (Schwangerschaftsabbruch, Scheidung, Schwulenehe, Adoption, künstliche Befruchtung und anderes), so sollte man sich bei komplexen Themen wie den Institutionen des Staates oder der Außenpolitik auf die Volksvertreter in den Parlamenten verlassen können. Warum wählen wir sie sonst? Und wofür bezahlen wir Abgeordnete und Senatoren? Sie sollen arbeiten, und uns nicht mit schwer verständlichen Fragen auf die Nerven zu gehen, auf die eigentlich nur Juristen, Verfassungsrechtler und Finanzexperten eine Antwort haben.

Dabei denke ich nicht nur an Großbritannien, sondern auch an das, was uns in Italien bevorstehen könnte. David Cameron, der unglückliche, wenngleich gut gelaunte konservative Ex-Premier, setzte ein Referendum an, um die britischen Bürger über Verbleib oder Austritt in der EU entscheiden zu lassen. Cameron erwartete, dass sich seine Landsleute für den Verbleib aussprechen würden. Er war derart überzeugt davon, dass er plante, mit dem erwarteten Ergebnis im Rücken die Opposition innerhalb seiner eigenen Partei auszuschalten. Alle wissen, wie die Sache endete: Die Briten sprachen sich mehrheitlich dafür aus, die Europäische Union zu verlassen, Cameron musste zurücktreten und viele Wähler - ich kenne mindestens drei von ihnen - haben ihre Entscheidung für den Brexit inzwischen bereut: Auch sie hatten geglaubt, die Mehrheit würde für Remain votieren; mit ihrer Leave-Stimme hatten sie lediglich gegen die Brüsseler Bürokratie protestieren wollen. Mittlerweile haben sie drei Millionen Unterschriften für eine Wiederholung des Volksentscheids gesammelt, zu der es nicht kommen wird.

Um eine alte Bibelweisheit zu paraphrasieren: Wer sich an einem Referendum beteiligt, kommt dabei um. Vor Kurzem sagte mir ein englischer Freund, der für den Brexit votiert hat, er bedaure seine Entscheidung dermaßen, dass er beabsichtige, die schottische Staatsbürgerschaft zu beantragen, falls Schottland das Vereinigte Königreich verlasse, um in Europa zu bleiben. Briten können exzentrisch sein.

Italiener sollen über eine Verfassungsreform abstimmen, die kaum jemand versteht

Der Fall Italien ist vielleicht weniger extravagant, allerdings könnten die Konsequenzen den britischen nicht unähnlich sein. Worum geht es? Am 4. Dezember sind die Italiener dazu aufgerufen, bei einer Volksabstimmung zu der von Matteo Renzi, dem Ministerpräsidenten, initiierten Verfassungsänderung Ja oder Nein zu sagen. Diese Reform berührt einige Aspekte wie das Verfahren zur Wahl des Präsidenten der Republik oder die Umwandlung einer der beiden Kammern (des heutigen Senats) in ein Parlament der Regionen. Die Befürworter der Reform beteuern, dass die Reform institutionelle Prozesse beschleunigen und Ausgaben sparen werde. Die Vertreter des Neins hingegen - von der radikalen Linken bis zu Silvio Berlusconi, von der Lega Nord bis zur Fünf-Sterne-Bewegung -, nennen die Reform nicht nur unnütz, sondern auch eine große Gefahr für die Demokratie. Nach neuesten Umfragen ist der Ausgang äußerst unsicher.

Die Regierung hofft verzweifelt auf ihre Legitimierung durch das Wahlvolk, während die Opposition zum Nein aufruft, um Renzi aus dem Amt zu jagen. Nicht anders als im Vereinigten Königreich handelt es sich auch hier um ein in erster Linie politisches Match, während der Gegenstand des Referendums derart kompliziert ist, dass die Wähler nicht recht verstehen, worum es geht, und am Ende nicht für oder gegen die Sache , sondern für oder gegen die Regierung stimmen wird. Wie in England eben.

Daher meine Abneigung gegen solche Volksentscheide. Sie zwingen den einfachen Bürger zu einer Verantwortung, die in einer Demokratie eigentlich Sache der Parlamentskammern wäre. Was weiß denn ich über das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Gewalten des Staates? Wie soll ich bei einer so schwierigen Materie eine Entscheidung treffen? Was mich angeht, so werde ich für die Reform stimmen, einfach deshalb, weil ich nicht will, dass die Regierung stürzt, denn ich fürchte die politische und wirtschaftliche Instabilität, die sich daraus ergeben könnte, einschließlich katastrophaler finanzieller Folgen. Sehr wahrscheinlich käme es zu vorgezogenen Neuwahlen und ebenso wahrscheinlich würden sie von der Fünf-Sterne-Bewegung gewonnen, die zweifellos aus überwiegend ehrlichen und anständigen Leuten besteht, aber ganz und gar regierungsunfähig ist, wie der Fall der neuen Bürgermeisterin Roms, Virginia Raggi, auf eklatante Weise zeigt.

Mit anderen Worten: Ich möchte nicht enden wie mein englischer Freund, der aus Protest für den Brexit stimmte, in der Überzeugung, dass die Mehrheit für den Verbleib in der EU sicher sei, und als das Gegenteil eintrat, beschloss, schottischer Staatsangehöriger zu werden, damit er Bürger der Europäischen Union bleiben kann. Um den Irrsinn zu vermeiden, ein Votum abzugeben, dessen Substanz mir unverständlich ist, und von dem ich nur begreife, das es mir Gelegenheit verschafft, ganz allgemein meinen Protest auszudrücken, wähle ich die Kontinuität.

Deshalb habe ich beschlossen, mit Ja zu stimmen. In der Hoffnung, dass es sich bei besagter Reform nicht um den Abgrund an Verruchtheit handelt, von dem die Opposition redet (es wirkt freilich ein wenig lächerlich, wenn sie von einer Gefahr für die Demokratie schwatzt), empfehle ich Matteo Renzi, vor einem katholischen Heiligen seiner Wahl zu geloben, nie mehr eine Volksbefragung anzusetzen. Sollte er am kommenden 4. Dezember gewinnen, wie ich es ihm und mir selbst wünsche, wäre das ein solches Wunder, dass ich an seiner Stelle in Zukunft darauf verzichten würde, das Schicksal noch einmal herauszufordern. Ich würde mein (politisches) Keuschheitsgelübde wirklich ernst nehmen und mich demütig darum bemühen, die zwei Hälften des Landes wieder zusammenzufügen, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs wahrscheinlich niemals so tief gespalten war wie heute. Auf den von Barack Obama seiner Verfassungsreform erteilten Segen sollte er hingegen nicht viel geben, denn Präsident Obama wird in wenigen Wochen ein einfacher amerikanischer Bürger sein, während uns der Haarschnitt seines möglichen Nachfolgers nicht nur für den guten Geschmack, sondern auch für unsere westlichen Demokratien fürchten lassen könnte.

© SZ vom 04.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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