Außenansicht:Aufsicht braucht Zeit

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Warum RWE und Eon kaum Chancen auf Schadenersatz wegen Stilllegung ihrer Atomkraftwerke haben.

Von Peter Becker

Am 11. März 2011, einem Freitag, suchte ein Tsunami die Küstengebiete Japans heim. Heute, mehr als vier Jahre später, müssen sich deutsche Gerichte mit den Folgen der Katastrophe befassen. Warum? Zur Debatte stehen die Maßstäbe für die Sicherheitstechnik in Kernkraftwerken weltweit. In Japan war ein eklatanter Fehler passiert: Der Tsunami erzeugte viel höhere Wellen, als sie die japanischen Reaktorbauer in ihrer Sicherheitsphilosophie vorgesehen hatten. Die Wellen legten die Stromversorgung der Reaktoren und des Brennelementlagers lahm. Es kam zur Kernschmelze, in deren Folge das Kühlwasser der Reaktoren in seine Bestandteile zerlegt wurde, also Sauerstoff und Wasserstoff. Das Gemisch, auch als "Knallgas" bekannt, explodierte und hinterließ Reaktorruinen.

Diesen Ablauf nutzte ein beherzter Mann, der damalige CDU-Umweltminister Norbert Röttgen, um die sofortige Stilllegung der sieben ältesten deutschen Reaktoren und des Pannenreaktors Krümmel anzuordnen. Röttgen berief sich auf den Paragrafen 19 des Atomgesetzes. Dort heißt es, dass die Aufsichtsbehörde den Betrieb von Atomanlagen einstweilen oder endgültig einstellen kann, wenn sich durch radioaktive "Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können". Röttgen sagte, das Risiko der Atomenergie müsse neu bewertet werden. Dafür brauche man Zeit. Daher entschied sich das Kabinett am Montag für das Moratorium, die befristete Stilllegung der acht Reaktoren bis zu einem Gesetzesbeschluss.

Dagegen klagen die Stromkonzerne. Sie berufen sich darauf, dass dieselbe Bundesregierung und der Bundestag gerade erst die Laufzeit der Atomreaktoren verlängert hatten, was als "Ausstieg aus dem Ausstieg" bezeichnet wurde. Darauf hätten sie sich eingestellt. Das Moratorium mache dieses Vertrauen zunichte. Sie verlangen Schadenersatz für drei Monate behördlich angeordneten Stillstands.

Die Verfahrensabläufe geben den Stromkonzernen auf den ersten Blick recht. RWE monierte, die hessische Atomaufsicht habe das Unternehmen vor dem Moratorium nicht gehört. Mit diesem Standpunkt konnte es sich vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof und dem Bundesverwaltungsgericht durchsetzen. Der Ball rollte zurück ins Feld der Atomaufsicht: Bund und Länder streiten sich jetzt, wer den Fehler auszubaden hat.

Dazu muss man wissen: Die Aufsichtsbehörden des Bundes und der Länder stehen zueinander in einem gestuften Verhältnis: Beide Ebenen haben die Fachaufsicht. Im Normalfall liegen die inhaltliche Beurteilung ("Sachkompetenz") und die Verfahrenszuständigkeit ("Wahrnehmungskompetenz") beim Land. Der Bund kann aber die Sachkompetenz an sich ziehen. Die Länder monieren jetzt, der Bund habe beim Moratorium die Sachkompetenz an sich gezogen. Dafür spricht einiges. Denn im Bescheid des Bundesumweltministeriums vom 16. März 2011 heißt es, dass der Bund die Länder "zur Gewährleistung eines einheitlichen Vollzugs bittet, anzuordnen, dass die sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke für drei Monate stillgelegt werden sollten". Der Anordnung sei Paragraf 19 des Atomgesetzes zugrunde zu legen und dies zu begründen mit den Überlegungen zur Neubewertung des Gefahrenverdachts und der Risikovorsorge. Unterschrieben ist die Anordnung von Gerald Hennenhöfer, der in der Vergangenheit zwischen dem Energieunternehmen Viag und der staatlichen Atomaufsicht hin- und hergewechselt war und von Schwarz-Grün wieder zum Leiter der Atomaufsicht berufen wurde. Der Kasseler Atomrechtsexperte Alexander Roßnagel hält Hennenhöfer daher für befangen. Der zuständige Aufsichtsbeamte aus dem Bundesumweltministerium hielt die Anordnung Hennenhöfers in seiner Stellungnahme vor dem hessischen Landtags-Untersuchungsausschuss für zu knapp. Sein Angebot, eine ausführlich begründete Anordnung zu schreiben, sei aber abgelehnt worden.

Bei der Reaktorsicherheit gilt der "Maßstab der praktischen Vernunft"

Trotzdem ist das Moratorium rechtmäßig. Denn die deutsche Reaktorsicherheitsphilosophie gründet sich auf den "Maßstab der praktischen Vernunft". Damit ist der letzte Stand der Sicherheitsanforderungen gemeint, der insbesondere von der deutschen Reaktorsicherheitskommission definiert wird. Sie stützt sich auf die bisherigen "praktischen" Erfahrungen.

Genauso waren die Japaner vorgegangen. Sie hatten der Konstruktion von Fukushima die bisher bekannt gewordenen Tsunamis und die von ihnen ausgelösten Wellenhöhen zugrunde gelegt. Fukushima begründete eine neue Erfahrung. Ich halte es für richtig, wenn sich die deutsche Atomaufsicht mit dem Moratorium die Zeit nahm, ihre Sicherheitsannahmen zu überprüfen, um das Restrisiko neu zu bestimmen. Dabei ging es auch und besonders um den Fall eines terroristischen Flugzeugabsturzes. Eine Untersuchung der Atomaufsichten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte ergeben, dass die sieben ältesten Reaktoren nicht gegen dieses Risiko ausgelegt waren.

Aus dieser Untersuchung waren aber wegen der begrenzten Laufzeiten durch den 2000 beschlossenen Atomausstieg keine Konsequenzen gezogen worden. Mit dem "Ausstieg aus dem Ausstieg" wurden die Laufzeiten aber verlängert. Gerade dieses Risiko musste daher neu bewertet werden. Die Stromkonzerne kannten natürlich diese Untersuchung. Wenn die Atomaufsicht daraus vor dem Hintergrund Fukushima Konsequenzen zog, war das richtig. Und der Verwaltungsrechtler weiß, dass die Behörde bis zur letzten mündlichen Verhandlung berechtigt ist, Gründe für ihre Anordnungen nachzuschieben. Das wird sie in den anhängigen Prozessen sicherlich tun.

Die Aussichten sind nicht schlecht. Die Atomaufsichten können argumentieren, sie hätten Zeit für eine Neubewertung gebraucht, die die von der Kanzlerin eingesetzte "Ethik-Kommission" unter Vorsitz des früheren Bundesumweltministers Töpfer vornahm. Sie brauchte nur drei Monate; angesichts der sehr diskursiven Überlegungen eine bewundernswerte Leistung. Darauf kann sich auch die hessische Landesregierung berufen. Ihr Fehler, RWE nicht anzuhören, muss folgenlos bleiben, weil die befristete Stilllegung sachlich nötig war.

RWE verlangt vom Land Hessen 235 Millionen Euro, Eon vom Land Niedersachsen gar 380 Millionen. Begründung: entgangene Gewinne wegen der Stilllegung der Reaktoren. Diese Klagen müssten abgewiesen werden. Die Gerichte können argumentieren, dass die Atomaufsicht berechtigt war, die Abschaltung anzuordnen, weil die Gefahrenlage neu bewertet werden musste. Es wird also schwierig für die Konzerne im Gerichtssaal.

© SZ vom 15.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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