Außenansicht:Auf der Todesstraße

Was humanitäre Hilfe heute im belagerten Aleppo bedeutet - für die Stadt und für die unter Lebensgefahr handelnden Helfer.

Von Amani Idlibi

Es ist erst sechs Wochen her, dass ich zuletzt in Aleppo war, aber seither ist so viel passiert, dass es sich anfühlt wie Jahrzehnte. Als ich diesmal in die Stadt kam, musste ich zahlreiche neue Checkpoints passieren. Der Krieg in Syrien wird mit jedem Tag brutaler und komplexer. Ich wollte nach Aleppo, um meine Universitätszeugnisse und meinen Pass zu holen. Ich brauche diese Dokumente in der Türkei, wo ich nach Jahren des Krieges inzwischen als Flüchtling lebe. Ich arbeite bei der Organisation "Syria Relief and Development", einer medizinischen Hilfsorganisation. Ich habe mein ganzes Leben in Aleppo verbracht, es ist meine Heimat. Jetzt fühlt es sich dort an wie in einem Gefängnis. Ich kann noch nicht mal in meine eigene Wohnung zurückkehren. Es ist einfach zu gefährlich.

Im Westen Aleppos ging das Leben auch während des Kriegs zunächst relativ normal weiter. Natürlich gab es Stromausfälle und das Wasser wurde knapp, aber all das hielt nie lange an. Ich bin damals noch jeden Morgen für mein Biotechnologie-Studium zur Universität gegangen. Auch dort herrschte die Revolution, wie ein Spiegelbild der Revolution auf den Straßen: Überall standen Wachmänner, die unsere Namen mit ihren Listen abglichen. Darauf standen Verdächtige, denen die Mithilfe bei Aktivitäten gegen das Regime nachgesagt wurde.

Ich hatte immer Angst, dass mein Name auch auf einer Liste stehen könnte. Aber zum Glück konnte ich jedes Mal passieren. Abends ging ich nach Hause, besuchte Freunde und Familie, lernte für meine Kurse. Nur nachts spürten wir, dass Krieg herrscht, er holte unsere trügerische Normalität ein wie ein schlechter Traum. Wir hörten die Bomben des Regimes auf die von der Opposition besetzten Gebiete in Ost-Aleppo niederregnen. Ja, wir lagen sicher in unseren Betten, aber wir hörten die Bomben, die unsere Nachbarn trafen und töteten. Noch war der Krieg nicht bei uns angekommen, aber sein Lärm ließ uns nicht schlafen.

Alles wurde anders, als mein Bruder anfing, in einem Feldlazarett im Osten Aleppos zu arbeiten. Die Regierung begann, ihn zu beschatten. Sie wollten ihn verhaften, also wurde auch er auf eine der gefürchteten Listen gesetzt. Das gefährdete unsere gesamte Familie: Jeder einzelne von uns konnte jederzeit von der Regierung festgenommen werden. Wir hatten ständig Angst. Mein Bruder ging dann in den Osten, wir blieben im Westen. Jeglicher Kontakt zu ihm wäre zu gefährlich gewesen. Wenn er uns besuchte und dann wieder ging, dachten wir, wir würden ihn nie wieder sehen.

Die syrische Regierung nutzt humanitäre Hilfe auch für ihre politischen Zwecke

Als es endgültig zu gefährlich für uns wurde, beschloss meine Familie, in die Türkei zu fliehen. Genauso, wie Millionen anderer Syrer auch. Auf der Flucht sah ich das wahre Gesicht des Krieges. In Ost-Aleppo gab es kein Leben mehr: Alle warteten nur noch auf die nächste Katastrophe. Alles war zerstört, es gab kaum Essen und oft gar kein Wasser, geschweige denn andere lebenswichtige Dinge wie Medikamente, Kleidung oder Hygieneprodukte. Und alle trugen Waffen, egal ob Ingenieure oder Studenten, damit sie ihre Familien verteidigen konnten. Diese Eindrücke ließen mich nicht los. Für mich war klar: Ich muss aktiv werden, muss den Menschen, die noch in Syrien ausharren, helfen. Von der Türkei aus koordiniere ich mittlerweile die Arbeit in Kliniken für schwangere Frauen in Syrien. Jede der Kliniken hat ein Team, das aus zwei Hebammen, zwei Sozialarbeitern und zwei Krankenschwestern besteht. Sie beraten und versorgen die schwangeren Frauen. Außerdem gibt es ein mobiles Team, das die Mütter zu Hause besucht, wenn sie es nicht in eine Klinik schaffen.

Um Hilfe zu leisten, müssen wir humanitären Helfer die Straße zwischen Ost- und West-Aleppo überqueren, die alle nur die "Todesstraße" nennen. Auf der Todesstraße gibt es Scharfschützen der Regierung, die auf die Passanten zielen. So sollen jeden Tag im Durchschnitt zehn Menschen sterben, heißt es. Vor lauter Sorge um meine Papiere bemerkte ich beim letzten Mal nicht, dass ich an dem Tag eine knallrote Jacke trug. Schnell zog mich ein Mann zurück: "Bist du verrückt? Was trägst du da? So wirst du doch direkt zum Ziel." Irgendwie schaffte ich es, die Jacke mit einem Schal abzudecken. Wie läuft man über eine Straße, auf der der Tod lauert? Wie bewegt man sich vorwärts, wenn jeder Schritt der letzte sein könnte?

Als humanitäre Helfer riskieren wir in Syrien täglich unser eigenes Leben, um das von anderen zu retten. Seit 2012 ist es verboten, in Gegenden, die nicht von der Regierung kontrolliert werden, Hilfe zu leisten. Jegliche Hilfe darf nur von Organisationen, die bei der syrischen Regierung registriert sind, durchgeführt werden. Humanitäre Helfer in Syrien genießen keinen internationalen Schutz. Internationales Recht wird jeden Tag gebrochen. Es erscheint mir manchmal wie eine reine Utopie.

Humanitäre Helfer sind gefangen zwischen den Fronten, immer auf der Flucht vor Bombardierungen, Entführungen, Verhaftungen. Einige bewaffnete Gruppen, die sich während des Krieges gebildet haben, haben bereits die absolute Kontrolle über humanitäre Aktivitäten in den Gegenden, die sie beherrschen. So versuchen sie, die Hilfe auch für ihre politische Agenda zu nutzen, etwa, indem sie den Lehrplan in den wenigen noch geöffneten Schulen bestimmen, oder nur bestimmten Personen Zugang zu Gesundheitskliniken ermöglichen. Wenn Zugang zu humanitärer Hilfe als Kriegswaffe genutzt wird, werden allerdings nicht nur die Leben der Menschen in Not aufs Spiel gesetzt, sondern auch die der Helfer.

Die Menschen in Syrien sind ausgezehrt und müde von den Jahren der Gewalt, des Leidens und des Hungers, das gilt auch für die humanitären Helfer. Das Mindeste, was die internationale Gemeinschaft und die Mächtigen dieser Welt ihnen schuldig sind, ist ein sofortiger, uneingeschränkter Zugang zu humanitärer Hilfe, ein Ende der Belagerung von Millionen von Menschen, und eine Feuerpause, die den Weg bereiten kann zu einem Ende der Kämpfe und einer politischen Lösung für diesen abscheulichen Krieg.

Ich wollte nie mein Land verlassen. Alles hat sich verändert, alles ist unter Beschuss. Das gilt auch für all unsere Ziele und Hoffnungen, auch sie werden getroffen und durchlöchert, bis bald nichts mehr von ihnen übrig ist. Es ist die Aufgabe von humanitären Organisationen, weiterhin in Syrien zu helfen. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob ich weitermache oder nicht. Meine Landsleute in Syrien brauchen mich.

Übersetzung: Johanna Mitscherlich

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