Auschwitz-Prozess in Detmold:Auschwitz-Überlebender: "Ich habe eine hohe Wertschätzung für das deutsche Justizsystem"

Prozess gegen einen früheren Auschwitz-Wachmann

Der 86-jährige Auschwitz-Überlebende Mordechai Eldar im Verhandlungssaal in Detmold

(Foto: dpa)

Mordechai Eldar überlebte nur knapp den Horror von Auschwitz. Jetzt sagt er im Prozess gegen den SS-Wachmann Reinhold Hanning aus.

Von Hans Holzhaider

Dieser Mann stand buchstäblich an der Schwelle des Todes. Mordechai Eldar, 86 Jahre alt, ist aus Israel nach Detmold gekommen, um im Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold Hanning, 94, als Zeuge auszusagen. "Ich bin ein Überlebender der Shoah", beginnt er seine Aussage. "Ich habe meinen Vater, meine Mutter und zwei kleine Brüder in Auschwitz verloren. Von hundert Verwandten, die mit mir im Viehwaggon von Ungarn nach Auschwitz transportiert wurden, haben nur 36 überlebt." Und dann, zur Vorsitzenden Richterin Anke Grudda gewandt: "Ich habe eine hohe Wertschätzung für das deutsche Justizsystem, das diesen Prozess ermöglicht."

Mordechai Eldar spricht hebräisch, aber einige Wörter kann man auch ohne Hilfe des Dolmetschers verstehen: "Raus, raus", "Schnell, schnell", "SS", "Krematorium", "Selektion". Das sind Wörter, die der damals 13-Jährige schnell verstehen lernte. Nachdem seine Eltern und seine kleinen Brüder schon bei der ersten Selektion unmittelbar nach der Ankunft an der Rampe im Lager Auschwitz-Birkenau in die Gaskammer geschickt wurden, blieb ihm nur sein Bruder Jehuda, 18 Jahre alt. "Ich fragte ihn: Sieht Gott, was uns angetan wird? Er antwortete nicht."

"Wir weinten bis wir einschliefen"

Er berichtet von der demütigenden Prozedur, der er sich wie sich die anderen Gefangenen, die noch weiterleben durften, zu unterziehen hatte: Er musste sich nackt ausziehen, alle Körperhaare wurden geschoren, die Hose, die man ihm gab, war viel zu groß, es gab keinen Gürtel und keine Schnur, um sie festzubinden, und ständig gab es Schläge: "Wer einem anderen half, wenn er gestürzt war, wurde geschlagen. Wer nicht schnell genug auf die Pritschen sprang, wurde geschlagen. Wer sprach, wurde geschlagen. Wer versuchte, nachts auf die Latrine zu gehen, wurde geschlagen." Mordechai und seine Familie kamen an einem Freitag spät nachts in Auschwitz an. "Ich wünschte meinem Bruder einen guten Schabbat, und wir weinten, bis wir einschliefen."

Bei einer der nächsten Selektionen wurde Mordechai Elder auch von seinem geliebten Bruder getrennt. "Als er fort war, wollte ich mich in den elektrischen Zaun werfen. Aber mein Freund Moshe versprach mir, er wolle ein Bruder für mich sein und überredete mich, es nicht zu tun." Am 9. Oktober 1944, es war Mordechais 14. Geburtstag, schien es, als sei auch für ihn das Ende gekommen. Mit etwa hundert anderen wurde er zur Vernichtung in der Gaskammer ausgesondert. "Man führte uns in Richtung Krematorium. Viele weinten und beteten. Ich betete nicht; ich führte einen Monolog mit meinen Eltern und sagte ihnen, dass ich auf dem Weg zu ihnen sei. Sie führten uns in den Entkleidungsraum und befahlen uns, uns auszuziehen und die Kleider an einen Haken zu hängen. Wir taten es nicht, wir warfen die Kleider auf den Boden. Dann drängten sie uns mit Stöcken und Gewehrkolben zu der Eisentür, die in die Gaskammer führte."

Welchem Umstand er seine Rettung verdankt, weiß er bis heute nicht

In dieser allerletzten Sekunde kam die Rettung: Einige SS-Offiziere kamen herein, flüsterten mit den Bewachern, und dann mussten etwa 50 der schon dem Tod Geweihten ihre Kleider wieder aufnehmen und wurden hinausgeführt. Welchem Umstand er seine Rettung zu verdanken hat, weiß Mordechai Elder bis heute nicht. "Am nächsten Morgen mussten wir Kartoffeln aus einem Güterwaggon ausladen." Später wurde er nach Sachsenhausen und von dort ins Konzentrationslager Mauthausen gebracht und von amerikanischen Truppen befreit.

Reinhold Hanning, der von Januar 1943 bis Juni 1944 als Angehöriger der SS-Wachmannschaft in Auschwitz war, verharrte während der gesamten Aussage des Zeugen Mordechai Elder nahezu regungslos in seinem Rollstuhl. Er hat an keinem der bislang vier Verhandlungstage ein einziges Wort gesprochen.

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