Auschwitz-Gedenktag:Worte mit Wucht

Auschwitz-Gedenktag: "Deutschland hat den Beifall der Welt gewonnen": Ruth Klüger am Holocaust-Gedenktag in Berlin.

"Deutschland hat den Beifall der Welt gewonnen": Ruth Klüger am Holocaust-Gedenktag in Berlin.

(Foto: Michael Sohn/AP)

Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger spricht im Bundestag über ihre Zeit als Zwangsarbeiterin.

Von Thorsten Schmitz, Berlin

Ruth Klüger lebt in Irvine, eine Autostunde südlich von Los Angeles. Vor Kurzem hat sie ihren 84. Geburtstag gefeiert. In ihrem Alter, sagt sie, überlegt man sich zweimal, ob man einen Zwölf-Stunden-Flug nach Berlin antritt. Als sie die Einladung von Bundestagspräsident Norbert Lammert erhielt, zur Gedenkstunde des Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus eine Rede zu halten, habe sie sich allerdings sehr schnell dazu entschlossen, zuzusagen. Und zwar: Merkels wegen.

Das legendäre Kanzlerinnenmantra zur Flüchtlingskrise - "Wir schaffen das!" - hat nach Auffassung von Ruth Klüger, der klugen, wortmächtigen Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, "heroisches" Format. Dieser Satz, sagte Klüger am Mittwoch, habe sie letztlich dazu bewogen, die beschwerliche Reise anzutreten. Im Plenum brandete Applaus auf, als Klüger zum Schluss ihrer Rede die Bundesregierung lobte. In Merkels Gesicht indes ließ sich keine Gefühlsregung ablesen.

Ihre Verwunderung über ein Deutschland, das Millionen Juden ermordet hat, sagte Klüger am Mittwoch, sei seit ein paar Monaten "in Bewunderung umgeschlagen". Mit wachem Blick verfolgt sie von Kalifornien aus, was in Deutschland gerade passiert. "Ich bin sehr beeindruckt von der Aufnahmebereitschaft Deutschlands für die Flüchtlinge", hatte sie kurz vor ihrer Rede noch gesagt.

Sie log, sagte, sie sei schon fünfzehn Jahre alt. Das immerhin bedeutete Zwangsarbeit statt Tod

Sehr klein wirkte die in Wien geborene Schriftstellerin, wie sie unter der Reichstagskuppel stand und vor dem überraschenderweise nicht vollbesetzten Plenum von ihrer Zeit im Frauenlager Christian-stadt erzählte, in Sätzen, die in ihrer Schlichtheit große Wucht entfalteten. So berichtete sie, wie sie ihr Weiterleben einer Lüge verdankt, weil sie sich, gerade mal zwölf Jahre alt, als Fünfzehnjährige ausgab. Die Lüge half ihr, zur Zwangsarbeit abkommandiert zu werden und den Gaskammern von Auschwitz zu entkommen. Ergreifend auch, wie Klüger den Alltag im Frauenlager beschreibt: "Wir haben den Wald gerodet, die Stümpfe gefällter Bäume ausgegraben, Schienen getragen." Es liege "im Wesen der Zwangsarbeit, dass die Arbeiter den Sinn ihrer Arbeit entweder nicht kennen oder ihn verabscheuen".

Klüger, die mit ihrem fesselnden autobiografischen Roman "Weiter leben" weltberühmt geworden ist, widmete Passagen ihrer Rede auch dem düsteren Kapitel der Zwangsprostitution in Konzentrationslagern - und dass nach Kriegsende Frauen, die zum Sex mit anderen Häftlingen gezwungen worden waren, später nicht als Zwangsarbeiterinnen eingestuft wurden und auch keine Entschädigung erhielten.

Ruth Klüger ist mit einem Staunen nach Berlin gereist - einem Staunen über ein Land, das einst Juden wie sie ermordet hat und das heute Millionen Menschen in Not hilft. Deutschland, sagte sie, "hat den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Großzügigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen".

Ganz zum Schluss lobte die Schriftstellerin dann die Kanzlerin, die ja eher selten Lob erhält für ihren Duktus: In Deutschland sei ein Vorbild entstanden "mit dem schlichten Wahlwort: Wir schaffen das".

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