Aufarbeitung:Die Diplomaten schauten weg

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Mord, Folter, Schläge: Die Colonia Dignidad war ein dunkler Ort. Bei einem Treffen mit Opfern räumt Außenminister Steinmeier schwere Versäumnisse des deutschen Botschaftspersonals in Chile ein.

Von Peter Burghardt, Berlin

Auch Gudrun Müller kam, als end-lich ein deutscher Außenminister die deutsch-chilenische Horrorsekte zum Thema machte. Ihr halbes Leben verging in der Colonia Dignidad, diesem teutonischen Lager von Mord, Folter, Schlägen, Vergewaltigung, Zwangsarbeit, Psychopharmaka, Gottesfurcht und Waffen im Süden Chiles. 2005 gelang Frau Müller nach 37 Jahren die Flucht - ihr Mann Wolfgang starb kürzlich, ohne je für seine Qualen entschädigt worden zu sein. Nun verließ die Witwe ihr Altenheim in Graz, flog mithilfe von Freunden nach Berlin und schlurfte am Rollator in den Weltsaal des Auswärtigen Amtes. Was würde Frank-Walter Steinmeier zu sagen haben?

Erstmals lud ein Chefdiplomat in das hohe Haus, um einen der größten Skandale in Deutschlands Nachkriegszeit zu besprechen. Dem Aufruf folgten Opfer, Aktivisten, Journalisten, Politiker und auch Gäste, die den Tätern nahe waren oder sind. "Es wurde höchste Zeit", findet Gudrun Müller. Den Anlass gab allerdings weniger die Einsicht der Bundesregierung als vielmehr der Spielfilm "Colonia Dignidad" von Florian Gallenberger. Der rückte den Schrecken wieder ins Blickfeld, weshalb der Abend vor der Leinwand begann. "Ohne Sie, Herr Gallenberger, säßen wir heute wahrscheinlich nicht hier", gab Steinmeier zu. Den künstlerischen Anstoß habe man offenbar gebraucht.

Steinmeier gibt die Colonia-Akten der Jahre 1986 bis 1996 vorzeitig frei. Zu erforschen gibt es viel

Also verwandelte Steinmeier eine seit einem halben Jahrhundert schwelende Affäre in eine Staatsangelegenheit. Er gibt nach älteren Papieren auch die Akten des Auswärtigen Amtes zur Colonia von 1986 bis 1996 frei, obwohl das Gesetz eine 30-jährige Sperrfrist vorsieht. Die Causa soll ein Lehrstück für die Behörde werden. Der Umgang mit der Colonia Dignidad sei "kein Ruhmesblatt gewesen", sprach Steinmeier. Deutsche Diplomaten hätten viele Jahre lang "bestenfalls weggeschaut".

In Gallenbergers Kinoversion ist die deutsche Botschaft in Santiago zu Recht ein Hort der Komplizen. Steinmeier zitierte einen ehemaligen Mitarbeiter: "Ordentlich und sauber, bis zu den Schweineställen" sei die Colonia. Längst ist bekannt, dass eher der spätere Eindruck eines kritischeren Beamten zutraf: "So muss Theresienstadt gewesen sein." Er verneige sich vor den Opfern dieses Zwangssystems, sagte Steinmeier. Opfer wie Gudrun Müller, Wolfgang Kneese und Erick Zott sowie unermüdliche Helfer wie der Jurist Hernán Fernández, der Rechercheur Jan Stehle oder der Menschenrechtler Dieter Maier saßen vor ihm. Manche von ihnen debattierten nachher auf der Bühne. Doch was bedeutet das Berliner Mea culpa konkret?

Zu erforschen gäbe es viel in diesem schwarzen Loch der Geschichte. Man muss sich das vorstellen: 1961 flüchtet der stramm rechte Prediger und Kinderschänder Paul Schäfer samt Gemeinde aus dem Rheinland in die Anden und baut dort eine totalitäre Siedlung auf. Hinter der Fassade von Folklore, Fleiß und Frömmigkeit missbraucht er Hunderte junger Deutscher und Chilenen, Familien werden auseinander gerissen, Kinder entführt, und selbst das ist nur ein Teil des Grauens: Nach dem Militärputsch 1973 folterte und ermordete Pinochets Geheimdienst in der Colonia Regimegegner, auch mit Maschinengewehren und Giftgas dealten die Kolonisten. Zu ihren Freunden zählten der Waffenhändler Gerhard Mertins und Teile der CSU. Ein Porträt von Franz Josef Strauß hing an der Wand der Kommune, die längst Villa Baviera heißt, Bayerisches Dorf.

Wer waren die Mörder? Was wurde wie verschoben? Wo ist das Geld? Mit Sklavenarbeit und Waffenschmuggel hat die kriminelle Colonia Dignidad ein Vermögen verdient, die Geschädigten dagegen bekamen keinen Cent. Experten wie Jan Stehle bezweifeln, dass Steinmeiers Vorstoß für die Aufklärung genügt. Es bräuchte eine Historikerkommission. Auch müsste der BND Material zur Colonia und ihrem Netzwerk zugänglich machen. Außerdem ist zwar der frühere Guru Schäfer seit 2010 tot, nachdem er 1996 geflohen und 2005 verhaftet worden war. Ein paar andere Hierarchen von einst sitzen in chilenischen Zellen. Weitere mutmaßliche Verbrecher dagegen laufen frei herum, darunter der vormalige Sektenarzt Hartmut Hopp, die mutmaßliche Nummer zwei der Bande. Hopp floh 2011 nach Krefeld, nachdem er in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war. Seine alte Heimat Deutschland ignoriert den internationalen Haftbefehl. Die chilenische Justiz will das Urteil ersatzweise hierzulande vollstrecken lassen, aber die Sache zieht sich auffällig in die Länge. Obwohl Staatsanwälte in Bonn und Krefeld offiziell seit 1985 gegen Hopp ermitteln.

Obendrein gibt es diese Villa Baviera alias Colonia Dignidad noch. Sie ist heutzutage ein geschmackloser Agrarbetrieb und Freizeitpark mit gut 100 Bewohnern, angeführt von Kindern ehemaliger Mitstreiter Schäfers. Einer der neuen Hierarchen, Hans Schreiber, war ebenfalls bei Steinmeier zu Gast. Dabei liegen gegen ihn und andere Wortführer Strafanzeigen vor, wie der Opferanwalt Hernán Fernández bestätigt. Auch widersetze sich die Clique der Aufarbeitung und Wiedergutmachung. Verbliebenen Siedlern wurde sogar Land angeboten, falls sie den Mund hielten. Einer erzählte dem Regisseur Gallenberger stolz, dass seine Eltern in Paul Schäfers Betten schliefen - in jenen Betten, in denen sich Schäfer an Minderjährigen verging.

Immerhin, ein Fenster habe Steinmeier geöffnet, glaubt Winfried Hempel. Er war selbst in der Colonia gefangen, die Anwälte Hempel und Fernández kämpfen um Entschädigung für die überlebenden Betroffenen, von denen viele Sozialfälle sind. Gudrun Müller, die 37 Jahre in der Colonia schuftete und litt, versuchte am Ende der Veranstaltung, sich mit ihrem Rollator Steinmeier zu nähern. Sie will wissen, wie sie die 200 Euro im Monat extra für ihr Zimmer im Grazer Altersheim bezahlen soll.

© SZ vom 28.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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