Attentat auf Gandhi:Krieg stellt keinen Frieden her

Sechzig Jahre nach seinem Tod haben die Thesen des indischen Freiheitskämpfers noch immer Wert - vielleicht sogar mehr, als zu Zeiten des Mahatmas.

Vanamali Gunturu

Euphorischer Optimismus ergriff Indien, als die Briten 1947 ihre einstige Kronkolonie nach neunzig Jahren Herrschaft verließen. In dem unblutigen Freiheitskampf sahen Intellektuelle im Westen eine Hoffnung für die gesamte Menschheit. Mahatma Gandhi jedoch fand keinen Grund zum Jubeln. Er wusste, dass für seine Visionen ein Abschütteln der Besatzer nicht reichte.

Attentat auf Gandhi: Der indische Premierminister Manmohan Singh schmückt Gandhis Bild zur Feier seines 138. Geburtages im Jahr 2007.

Der indische Premierminister Manmohan Singh schmückt Gandhis Bild zur Feier seines 138. Geburtages im Jahr 2007.

(Foto: Foto: AP)

Vor ihrem Abgang hatten die europäischen Kolonialherren die heutigen Staaten Pakistan und Bangladesh, überwiegend von Muslimen bewohnte Teile, von Indien getrennt. Das war eine Niederlage für alle, die für ein ungeteiltes Indien gekämpft hatten.

Zudem führte die Teilung zu Gewaltorgien zwischen religiösen Fanatikern. Ghandi, gealtert und geschwächt, griff auf seine Weise in den Konflikt ein und wurde von einem Hindufanatiker am 30. Januar 1948 in Delhi aus nächster Nähe erschossen.

War Gandhi gescheitert? Oder können wir Heutigen in einer Welt voll globalisierter Verwirrung und Gewalt bei ihm doch den Weg zu zukunftsweisenden Entscheidungen suchen?

Bürgerkrieg und Massenflucht infolge der Teilung stellten die größte Herausforderung für Gandhis Kardinalwerte - Wahrheit und Gewaltlosigkeit - dar. Er fuhr mit seinen Anhängern in die Städte und Dörfer, wo der religiöse Hass am schlimmsten wütete. Mit Misstrauen begegnete man dem Ungebetenen.

Sie legten Fäkalien, Dornen und Glassplitter

Im Distrikt Naokhali, im heutigen Bangladesh, legten sie Fäkalien, Dornen und Glassplitter auf die Wege, da Gandhi wie immer barfuß unterwegs war. Er scheute auch nicht das Gespräch mit Rädelsführern und Mördern. Allmählich öffnete sich der Weg zu den Herzen der Menschen. Von ihm gestifteter Friede war dauerhaft, selbst wenn anderenorts die Gewalt weiter eskalierte.

In der Landeshauptstadt Neu Delhi, die von Flüchtlingen überflutet war, unternahm er im Januar 1948 seinen letzten Hungerstreik. Er forderte verstärkten Schutz für die Muslime in Delhi und die Fortzahlung der 40 Millionen Pfund an Pakistan, die ihm der Teilung zufolge zustanden, und die Indien zurückgehalten hatte. "Halte deinem Feind auch die andere Wange hin", praktizierte Gandhi.

Wer der Öffentlichkeit dienen möchte, der soll auf politische Macht, Ämter und privates Eigentum verzichten, war Gandhis Devise. Nach der Unabhängigkeit riet er allen Kongressmitgliedern, sich von Posten in der Regierung zu distanzieren, die Partei gar aufzulösen. Sie sollten eine "Außerparlamentarische Opposition" bilden.

Politiker hätten die Aufgabe, eine gewaltlose Gesellschaft zu gestalten. Gandhi setzt "gewaltlos" mit "frei" gleich. Nur eine gewaltlose Gesellschaft war für ihn eine freie, in der sich alle Menschen, auch die unberührbaren Kloputzer und Schuster Indiens, entfalten und in moralischer Vollkommenheit ihre eigenen Gesetzgeber sein können. Gewaltlos ist die Gesellschaft wiederum, wenn ihre politische Macht und die Wirtschaft dezentralisiert sind und die Kultur Vielfalt zulässt.

Autonome Dorfrepubliken

Machtkonzentration erreichte unter den Briten einen Höhepunkt, den die Inder nie zuvor gekannt hatten. Verwaltung, Polizei, Armee und Justiz waren zentralistisch organisiert und dem Volk unzugänglich. Gandhis Ansichten über den Staat entstammen dieser kollektiven Erfahrung: Der Staat sei eine brutale Konzentration der Macht, bereits sein Dasein pure Gewalt.

In einer Gesellschaft, deren Mitglieder ihre eigenen autonomen Gesetzgeber sind und daher keine Ordnungshüter wie Polizei benötigen - das eigentliche Telos des Freiheitskampfs - würde der Staat verschwinden. Ein Land, vor allem Indien, solle sich in unzählige Dorfrepubliken nach dem Prinzip des "Panchayat" reorganisieren, worin alle Angelegenheiten auf der Dorfebene zu klären seien.

Zwar würdigte Indien Gandhis Ansicht, indem es Dezentralisierung der Macht auf die Dörfer zur verfassungsmäßigen Aufgabe der Gesetzgeber machte, doch wurde das Panchayat-System nicht im Sinne seines Schöpfers verwirklicht.

Viele Probleme der ländlichen Gebiete Indiens - schlechte Wasser- und Stromversorgung, mangelhafte Gesundheitsfürsorge, Landflucht und nicht zuletzt die alarmierend hohe Selbstmordrate (seit 2002 begeht alle 30 Minuten ein Bauer Suizid) - haben hier ihren Ursprung.

Krieg stellt keinen Frieden her

Zivilisation ist die zunehmende Verringerung der Bedürfnisse

Gandhis Gedanken zur Wirtschaft entstammten wesentlich seiner Auffassung von Zivilisation: Zivilisation muss die zunehmende Verringerung der Bedürfnisse bedeuten, nicht deren Vervielfältigung. Darum hielt er die Industrialisierung mit maschineller Massenproduktion für eine entzivilisierende Entwicklung. Zudem führt die zentralisierte Produktion in einigen wenigen Industriemetropolen zu unmenschlichen Bedingungen.

Dies bedeutet wiederum für die Dörfer schreckliche Armut und Ausbeutung. Unter "der enormen Hitze" der Maschinen - dem Energieverbrauch also - würden außerdem alle Lebewesen und die ganze Umwelt leiden. Die Luft, der Boden und die Gewässer würden verunreinigt, schrieb Gandhi 1915. Gandhis Antwort auf die Ausbeutung von Menschen und die Zerstörung der Natur durch die Maschinen war Boykott und Khadi - eine Belebung der Heimindustrie auf dem Lande.

Die Briten hatten Indiens traditionelle Dorfindustrie so gründlich zerstört, dass man zum Beispiel kaum noch ein Spinnrad in den Dörfern vorfand. Gandhi spann jeden Tag einige Stunden lang Garn, und erklärte das Spinnen zur spirituellen Praktik. Bald wurde daraus eine Massenbewegung.

Heute noch ist Khadi, trotz der halbherzigen Unterstützung der freien indischen Regierung, eine nennenswerte Beschäftigungsquelle vieler Dorfbewohner Indiens. In einer dezentralisierten Wirtschaft sah Gandhi die beste Verteidigung eines Landes.

Selbst Hitler würde zur Gewaltlosigkeit bekehrt

Seine Logik: Jemand könne mühelos Großstädte, die Zentren der Politik und Wirtschaft, angreifen und dadurch ein Land bezwingen. Ganz anders sei es mit einem Land, das aus unzähligen Dorfrepubliken besteht; selbst ein Hitler würde bei so einer ermüdenden Eroberung zur Gewaltlosigkeit bekehrt.

Hat Gandhis Haupttugend heute eine Chance gegen die Atomwaffen, die Indien und Pakistan besitzen, und die die Menschen des Subkontinents bedrohen? Eines war sich Gandhi sicher: Gewalt beendet nicht Gewalt, Krieg stellt keinen Frieden her und die Einstellung "Auge um Auge" schafft "eine Welt voll von Blinden".

Die Atombombe (er nannte sie "die Sünde der Wissenschaftler") hatte in seinen Augen die feinen Gefühle der Menschen abgetötet. Auch nach Hiroshima und Nagasaki blieb für ihn die Gewaltlosigkeit die einzige humanisierende Kraft, der einzige Weg zu Frieden. In dieser Unschuld angesichts der Übermacht des Stärkeren steckt Gandhis Weisheit.

Vanamali Gunturu aus Hyderabad lebt als freier Schriftsteller in München. Er verfasste Monografien von Mahathma Gandhi und Krishnamurti.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: