Atomkrise und Libyen-Krieg:"German Angst" - Politik in Zeiten der Furcht

Atomkrise und Libyen-Krieg: Wieder einmal spotten Nachbarn in Europa über die Ängstlichkeit der Deutschen - zu Unrecht. Denn die "German Angst" ist durchaus eine zivilisatorische Errungenschaft, und sie entscheidet Wahlen.

Thomas Steg

Thomas Steg, 50, war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung: Erst von 2002 bis 2005 für die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder, danach bis 2009 auch für die Große Koalition unter Angela Merkel. Er arbeitet jetzt als Kommunikations- und Medienberater in Berlin.

Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Der gesellschaftliche Reichtum ist trotz regelmäßiger Krisen und Rezessionen kontinuierlich gewachsen, wenn auch nicht gerecht verteilt. Die Wirtschaft ist innovativ und international konkurrenzfähig. Autos aus Deutschland sind weltweit der Inbegriff für Qualität und Wertarbeit. Im Maschinen- und Anlagenbau sind die deutschen Hersteller führend. Deutschland verfügt über ein einmaliges System der beruflichen Bildung und über eine leistungsfähige Infrastruktur.

Allemal Gründe genug, um eigentlich zufrieden zu sein. Doch die Befindlichkeit im Land deckt sich nicht mit den statistischen Erfolgskennziffern. Kennzeichnend für die Grundstimmung sind weder Zuversicht noch Selbstvertrauen oder gar Risikobereitschaft. Vielmehr bestimmen Ungewissheit, Besorgnis und Verunsicherung das Alltagsbewusstsein. Angst ist zur Signatur unserer Zeit geworden.

Die wunderlichen Deutschen

In der Psychologie wird unterschieden zwischen Zustandsangst und Eigenschaftsangst. Letztere umfasst eine Disposition, die am treffendsten wohl mit Ängstlichkeit zu umschreiben ist. Gerade nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima wird eine solche Disposition gern wieder als "German Angst", so auch der Titel eines Romans von Friedrich Ani, bezeichnet. "German Angst" gilt demnach als ein Spezifikum der wunderlichen Deutschen, als ein gewissermaßen in die genetische Struktur ihres Nationalcharakters eingeschriebener Defekt. Und haben nicht die Reaktionen auf die Kernschmelze in Japan alle diesbezüglichen Vorurteile bestätigt? Dort die bewundernswert disziplinierten und unerschrockenen Japaner, hier die zu Übertreibung neigenden, geradezu hysterischen Deutschen?

Doch der Versuch, das sozialpsychologische Phänomen der Angst als lächerliche deutsche Marotte abzutun, verstellt den Blick auf die sich verändernden gesellschaftlichen Stimmungslagen und die Fließrichtung der mentalen Tiefenströmungen. Den Deutschen ein libidinöses, gar pathologisches Verhältnis zur Angst zu attestieren, zeugt nur von einem tiefen Unverständnis davon, was die Menschen in ihrem Denken und Fühlen wirklich bewegt.

Mögen sich die Angelsachsen belustigen über deutsche Sensibilitäten, wenn das Waldsterben, der Klimawandel oder die Schweinegrippe angesprochen werden, mögen die Franzosen den Kopf schütteln über die deutsche Atomdebatte. Mögen sie sich ruhig mokieren über deutsche Friedenssehnsucht und Kriegsfurcht. Sie übersehen dabei geflissentlich, dass "German Angst" durchaus eine zivilisatorische Errungenschaft ist. In ihr verarbeiten sich Lernprozesse nach der Nazi-Barbarei und den beiden verheerenden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts.

Die psychologische Erklärung ist denkbar einfach: Das Gefühl der Angst ist unmittelbar verbunden mit dem Eindruck und dem Empfinden von Hilflosigkeit. Es ist ein unangenehmes Gefühl, das sich in der Konfrontation mit dem Unbekannten einstellt. Angst, erscheint sie dem Betrachter auch noch so diffus und eingebildet, noch so unbegründet und überflüssig, noch so irrational und neurotisch, erweist sich im wirklichen Leben als ziemlich hartnäckig. Diesem Angstgefühl ist weder mit beruhigendem Zureden noch mit analytisch-wissenschaftlichen Argumenten beizukommen.

Das erfahren in aller Deutlichkeit Politik und Parteien. Angst wird zu einem relevanten Moment und Motiv für Stimmabgabe oder Parteipräferenz. Angst entscheidet Wahlen. Angst in der aktuellen Entwicklung allerdings als Konglomerat verschiedener Ängste: gespeist aus der Atomangst nach der Havarie in Japan, aus der Kriegsangst angesichts der Bilder von Bombardements und zivilen Opfern in Libyen, aus der Angst um einen stabilen Euro nach Finanz- und Schuldenkrise. Schließlich und vor allem aber aus der Angst vor sozialem Abstieg, wenn das Gefühl bis in jede Pore dringt, nicht mehr mithalten zu können und dadurch dauerhaft abgehängt zu werden.

In einer Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung wird Verunsicherung als "dominante gesellschaftliche Grundstimmung in Deutschland" bezeichnet. Obschon diese Erkenntnisse seit langem bekannt sind, haben sich die Parteien auf die neue Grundkonstellation aus Angst und Verunsicherung noch nicht eingestellt - weder inhaltlich noch semantisch oder stilistisch. Von den atomaren Ängsten und von Ausstiegsdebatten profitieren ausschließlich die Grünen. Sozialpopulismus hat der Linken in der Vergangenheit in manchen Landtag verholfen.

Skepsis gegenüber den Volksparteien

Die heterogenen Volksparteien CDU und SPD wirken dagegen wie gefangen in einem fast unlösbaren Dilemma konkurrierender, ja sich teils ausschließender Erwartungen in ihrer Wählerschaft. Sie gelten traditionell als Mitte-und-Maß-Akteure, die auf populistische Instrumente nur dosiert zurückgreifen können, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu beschädigen. Und Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Attribut für Politiker und Parteien, wenn ihnen in Zeiten der Angst die Wähler Vertrauen schenken sollen. Und bei der Glaubwürdigkeit haben die Grünen gegenüber allen anderen Parteien einen gewaltigen Vorsprung. Sie profitieren von ihrem eindeutigen thematischen Profil, ihrem positiven Image und ihrer Reputation als Oppositionskraft.

Im Vergleich zur Öko-Partei haben Union wie SPD schwer an ihren aktuellen wie nachwirkenden Regierungshypotheken zu tragen. In der Regierung haben sie nach Meinung der Bürger nicht das gehalten, was sie vorher versprochen hatten. Viele Menschen bleiben deswegen skeptisch gegenüber den beiden Volksparteien, die an der Macht zunächst Erwartungen enttäuscht haben und von denen fortan Enttäuschungen erwartet werden.

In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sind die Würfel gefallen. Vielleicht wird schon bald in Nordrhein-Westfalen zu besichtigen sein, ob und wie es Union und SPD unter den Bedingungen sich weiter auflösender sozialer Milieus gelingen wird, die verängstigten Bürger anzusprechen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Die wichtigste Lehre aus den März-Wahlen lautet dabei: Union wie SPD brauchen dringend einen Themenwechsel in der politischen Agenda und eine andere Akzentuierung der Energiedebatte. Der Ausstieg aus der Atomkraft jedenfalls treibt nur den Grünen die Hasen in die Küche.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: