Asylpolitik:Wie die EU Schleusern in die Hände spielt

Migrants from Sub-Saharian areas receive bottles of water on a rescue boat of Italy's Navy ship San Giorgio after being rescued in open international waters in the Mediterranean Sea between the Italian and the Libyan coasts

Migranten, die zwischen der libyschen Küste und Italien aus dem Mittelmeer gerettet wurden, sitzen an Bord eines Schiffs der italienischen Küstenwache

(Foto: REUTERS)

Mehrere Tausend Euro verdienen Schleuser an jedem Flüchtling. Doch sie sind nicht allein für den Tod der vielen Menschen im Mittelmeer verantwortlich, findet Buchautor Musumeci. Wir alle seien mitschuldig.

Von Karin Janker

SZ.de: Hunderte Tote an einem Tag, Tausende jedes Jahr - warum sterben so viele Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren? Wer ist dafür verantwortlich?

Giampaolo Musumeci: Nicht allein die Schleuser tragen die Verantwortung, wir alle sind schuldig. Es ist ein strukturelles Problem: Die EU ist dort nicht präsent, wo diese Menschen Hilfe bräuchten. Der Tod dieser Menschen liegt in der Verantwortung Europas.

Sie sind Autor eines Buchs über die Schleuserindustrie und sehen diese Menschen als nicht verantwortlich an?

Die Schleuser sind Geschäftsleute. Ich möchte sie nicht in Schutz nehmen, aber sie erfüllen mit ihrem Angebot eine Nachfrage. Und diese Nachfrage ist enorm groß. Die Flüchtlinge wollen raus aus ihren Heimatländern, sie wollen in Sicherheit leben. Aber diesem Hilferuf begegnet die EU in keinster Weise. Wir bieten ihnen keine Möglichkeit, legal hier Asyl zu beantragen. Obwohl beispielsweise Syrer ein Recht darauf haben. Aber selbst ihnen muten wir zu, illegal einreisen zu müssen - und dafür noch Tausende Euro an Schleuser zahlen zu müssen.

Zur Person

Giampaolo Musumeci ist als Fotograf, Journalist und Dokumentarfilmer auf das Thema Immigration spezialisiert. Zusammen mit Andrea Di Nicola hat er das Buch "Bekenntnisse eines Menschenhändlers" (Verlag: Kunstmann) veröffentlicht, für das die beiden entlang der Hauptrouten illegaler Immigration recherchiert haben. Das Buch lässt Anwerber, Skipper, Vermieter illegaler Unterkünfte und Geldhändler zu Wort kommen und zeichnet die Strukturen hinter dem Geschäft mit den Flüchtlingen nach.

Die Fahrt über das Mittelmehr ist nicht nur teuer, sondern auch gefährlich. Wie viel Geld fließt in die Schleuserindustrie?

Mein Ko-Autor Andrea Di Nicola und ich kommen in unseren Berechnungen zu dem Schluss, dass wohl jedes Jahr 500 Millionen Euro allein für die Reisen auf der Mittelmeer-Route bezahlt werden. Wie viel ein einzelner Flüchtling bezahlt, hängt ab vom Land, von der Route und von der Qualität des Bootes. Eine Überfahrt von Libyen nach Lampedusa kostet beispielsweise 3000 Euro. Wohin das Geld danach fließt, lässt sich nicht nachvollziehen. Es könnte beispielsweise in Waffenkäufe oder an terroristische Organisationen gehen.

Wo sitzen die Hintermänner?

Häufig finden wir sie in den Metropolen, in Istanbul, Rom, Tripolis. Sie führen ihre Netzwerke wie die Manager multinationaler Konzerne: Oft waren sie selbst früher Taxifahrer oder Fischer, dann haben sie sich eine kleine Flotte angeschafft und Subunternehmer angeheuert, die jetzt ihre Boote fahren. Das Netzwerk ist weit verzweigt: Es sind auch Leute dabei, die die Polizei schmieren, solche, die Papiere fälschen, und Vermieter, die die Flüchtlinge eine Zeit lang in ihren Wohnungen verstecken. Hinzu kommen bewaffnete Wachen und Schutzleute. Der Chef koordiniert all diese Bewegungen und begreift sich selbst als eine Art Reiseunternehmer, der für einen möglichst reibungslosen Ablauf sorgt.

Wie werben die Schleuser um ihre Kunden?

Das hängt vom Land ab. Manchmal werben die Schleuseragenturen sogar auf Facebook für ihre Dienste. In Libyen hingegen genügt ein Gang zum Hafen, dort findet man die Vermittler.

"Wer wenig Geld hat, muss das oft mit dem Leben bezahlen"

Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci

Autoren Andrea Di Nicola (links) und Giampaolo Musumeci mit ihrem Buch "Bekenntnisse eines Menschenhändlers".

(Foto: P. Matsas / Opale)

Im Jahr 2011, als die Revolution Tunesien erschütterte, legten besonders viele Boote von dort ab, heute gilt Libyen als Hauptherkunftsland der Flüchtlingsboote. Welche Rolle spielt die Instabilität in diesen Ländern für die Menschenschmuggler?

In Libyen herrscht momentan das totale Chaos. Es gibt dort keinen Staat, der die Strukturen der Schleuser stören könnte. Diese Instabilität ist der Schlüsselfaktor für die Schleuserindustrie. In Libyen boomt das Geschäft, das lässt die Preise für die Überfahrt nach Lampedusa sinken. Amateurschmuggler brauchen hier nur ein Boot und Waffen. Das macht die Überfahrt für die Flüchtlinge so gefährlich. Je günstiger der Preis für die Überfahrt, desto älter und voller ist das Boot. Man bezahlt je nach Dienstleistung - wer wenig Geld hat, muss das oft mit dem Leben bezahlen.

Kennen die Flüchtlinge denn die Gefahr, die sie auf sich nehmen?

Viele haben bereits Freunde oder Verwandte in Europa, mit denen sie in Kontakt stehen. Man tauscht sich aus, auch darüber, welche Schleuser einen verlässlichen Ruf haben. Viele Flüchtlinge wissen, wie gefährlich die Überfahrt sein kann. Aber ihnen bleibt keine Wahl: Sie könnten im Mittelmeer ertrinken, aber zu Hause in Aleppo hätten sie die Bomben erschlagen.

Wie kann die EU künftige Katastrophen verhindern?

Jedenfalls nicht, indem sie die Steuermänner einzelner Flüchtlingsboote verhaftet. Das ist, als würde man einen einzelnen Drogendealer festnehmen und das als großen Sieg feiern. Die Katastrophen sind vorhersehbar und sie werden wieder passieren. Man müsste die Drahtzieher fassen. Oder ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen, indem man Flüchtlinge nicht mehr dazu zwingt, auf europäischen Boden gelangen zu müssen, um Asyl zu beantragen.

Hat Mare Nostrum, das inzwischen eingestellte italienische Seenot-Rettungsprogramm, Flüchtlinge bisher womöglich zusätzlich zur gefährlichen Überfahrt motiviert, wie nun einige Politiker behaupten?

Nein, Mare Nostrum hat Menschenleben gerettet und ein Licht auf ein Phänomen geworfen, das auch sonst existiert hätte und weiterhin existieren wird. Ein Schleuser versicherte uns einmal: Sie werden die Flüchtlinge niemals aufhalten. Diese Menschen brauchen keine Motivation, ihre Not ist Motivation genug.

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