Asyl:Wenn der 18. Geburtstag zur Integrationsbremse wird

Pullach, Burg Schwaneck, Unterkunft für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge

Nicht einsam sein: Die Eingliederung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge lässt sich der Staat viel kosten.

(Foto: Angelika Bardehle)

Der Staat lässt sich die Integration minderjähriger Flüchtlinge viel kosten. Mit der Volljährigkeit endet die Hilfe oft schlagartig - und die jungen Menschen werden zu Einzelkämpfern.

Reportage von Paul Munzinger, Alzenau

Tia Sadeg hat keine Ahnung, wann er Geburtstag hat. Woher auch, nicht einmal seine Eltern wissen es. Im Sudan, wo Sadeg geboren wurde, spielt dieser Tag keine große Rolle. Erst auf der Flucht über Ägypten und Italien nach Deutschland hat irgendjemand irgendwann in seine Dokumente unter Geburtstag den 1. Januar eingetragen. Eine Zahl auf einem Papier, die Sadeg an Neujahr von einem unbegleiteten Minderjährigen in einen volljährigen Flüchtling verwandelt hat. Seitdem teilt dieses Datum sein Leben in Deutschland in ein Vorher und ein Nachher. Fragt man Sadeg, einen nachdenklichen jungen Mann mit dunkler Haut und ernstem Blick, was sich seit dem 1. Januar verändert hat, sagt er bitter: "Alles."

Vorher, das war ein Haus in Hösbach-Bahnhof, Unterfranken, in dem Sadeg von September bis Anfang Februar lebte. Sechs Betreuer kümmerten sich um zehn Jugendliche, auch in der Nacht war immer jemand da für Sadeg, wenn ihn seine Albträume aus dem Schlaf rissen. Mittags und abends kochten alle gemeinsam, am Tisch wurde Deutsch gesprochen. An der Wand hing ein Stundenplan: Aufstehen um 6.30 Uhr, Schule, Lernzeit, Freizeit. Am Nachmittag Schlafverbot, in der Lernzeit und beim Mittagessen Handyverbot. Einmal die Woche Großputz, einmal die Woche unternahmen alle etwas zusammen, meistens Bowling. Im Flur hing eine Fotocollage, auf einem der Bilder trägt Sadeg eine Lederhose. "Gute Freunde kann niemand trennen", hat jemand zwischen die Bilder geschrieben.

Nachher, das ist eine Wohnung in der fränkischen Kleinstadt Alzenau. Mit zwei anderen jungen Männern teilt Sadeg sich seit Februar ein Zimmer, das zugleich Gemeinschaftsraum für alle acht Bewohner ist; hier stehen der Esstisch und der Fernseher, nur hier gibt es W-Lan. Für die Berufsschule lernen, sagt Sadeg, könne er hier nicht. Und das mit der Gemeinschaft klappt auch nicht. Als Sadeg ankam, wollten die alten Bewohner ihn nicht in die Wohnung lassen; niemand hatte ihnen gesagt, dass ein Neuer einziehen würde. Noch immer wird kaum gesprochen, Deutsch schon gar nicht, aber wer nicht spricht, streitet wenigstens nicht. Bevor Sadeg einzog, musste schon einmal die Polizei anrücken, um in der Zweck-WG zu schlichten. Für drei Monate bewilligte das Jugendamt Sadeg eine Betreuerin, die ihm bei dem Papierkram half. Seit Ende März kommt sie nicht mehr. Er fühle sich alleingelassen, sagt Sadeg.

Asyl: Tia Sadeg hat seine Familie im Sudan verlassen, als er 15 war. Mit Freunden machte er sich auf nach Ägypten. An der Grenze gerieten sie in ein Minenfeld, nur Sadeg überlebte.

Tia Sadeg hat seine Familie im Sudan verlassen, als er 15 war. Mit Freunden machte er sich auf nach Ägypten. An der Grenze gerieten sie in ein Minenfeld, nur Sadeg überlebte.

(Foto: Munzinger)

Bei der Integration junger Flüchtlinge gibt es viel zu gewinnen - und viel zu verlieren

Die Integration Hunderttausender Flüchtlinge in Gesellschaft und Arbeitsmarkt ist, da sind sich Politik und Wirtschaft einig, die große Aufgabe der kommenden Jahre. Fördern und fordern, dieses Motto hat die Bundesregierung über ihr Integrationsgesetz geschrieben. Das Augenmerk liegt besonders auf den jungen Neuankömmlingen. Viel ist zu gewinnen, wenn ihre Integration gelingt, viel zu verlieren, wenn sie scheitert. Die Eingliederung der knapp 70 000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland lässt sich der Staat viel kosten; allein Bayern will dafür im laufenden Jahr 632 Millionen Euro ausgeben. Die jungen Flüchtlinge erhalten Jugendhilfe, werden pädagogisch und therapeutisch betreut.

Zum 18. Geburtstag müssen die Jugendämter entscheiden, wie es weitergeht: Erhalten die jungen Leute auch weiterhin Hilfe, - und wenn ja: in welchem Umfang? Oder stellt der Staat sie den Erwachsenen gleich - und riskiert, dass sie vom Weg in die deutsche Gesellschaft wieder abkommen? Viele Jugendämter, klagen Flüchtlingsorganisationen, Pädagogen und Wirtschaftsverbände, nutzten die erste Gelegenheit - den 18. Geburtstag -, um die Unterstützung auf ein Minimum zu reduzieren oder ganz zu streichen. Bundes- oder landesweite Zahlen gibt es nicht, nur Stichproben und Einzelfälle. Im Landkreis Aschaffenburg, wo Sadeg lebt, sind 23 junge volljährige Flüchtlinge untergebracht, 15 von ihnen ohne Hilfen. In Deggendorf wurden seit Februar acht junge Volljährige in Gemeinschaftsunterkünfte verlegt - trotz laufender Ausbildung. Proteste von Lehrern und Betreuern halfen nichts.

Doch das Problem ist nicht auf Bayern beschränkt. Auch Einrichtungen in Berlin oder Nordrhein-Westfalen berichten von ähnlichen Fällen. In Hamburg würden viele 18-Jährige in Gemeinschaftsunterkünfte verlegt, weil es Kosten spare, sagt Melanie Cagic, die jugendliche Flüchtlinge in der Hansestadt berät. Die Verlegung aus der betreuten Einrichtung empfänden viele als zweiten Beziehungsabbruch nach der Trennung von den Eltern, als Schock. Cagic berichtet von Schulabbrüchen, von Problemen mit Drogen und Alkohol. Integrationsleistungen, bis zur Volljährigkeit teuer bezahlt, würden mit einem Schlag abgebrochen. "Da wird viel Geld zum Fenster hinausgeworfen", sagt Cagic.

Macht die Flucht die Jugendlichen reifer als junge Deutsche?

Schon im Dezember warnte der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Bumf) davor, jungen Menschen durch eine "abrupte oder vorzeitige Beendigung der Jugendhilfe" die "Chancen auf eine selbstbestimmte Zukunftsplanung" zu nehmen. Seit der Jahreswende, die viele jugendliche Flüchtlinge zu Volljährigen gemacht hat, habe sich das Problem "dramatisch konkretisiert", sagt Johanna Karpenstein vom Bumf. Wer 18-Jährigen die Jugendhilfe verwehre, riskiere, so Karpenstein, "dass sehr motivierte Jugendliche in rasender Geschwindigkeit aufs Abstellgleis befördert werden". Sie betont aber auch, dass viele Kommunen sich große Mühe gäben mit den jungen erwachsenen Flüchtlingen, dass die Entscheidung vom jeweiligen Jugendamt abhänge.

Auch die bayerischen Industrie- und Handelskammern sind alarmiert von immer mehr Fällen, in denen die Ausbildung durch den Wegfall der Betreuung "massiv gestört" werde. Man würde es deshalb begrüßen, "wenn jugendliche Flüchtlinge bis zum Ende ihrer Ausbildung in den Einrichtungen der Jugendhilfe bleiben können".

Die bayerische Staatsregierung wünscht sich das Gegenteil. Jugendhilfe dürfe nicht "Ausfallbürge für andere Bereiche" sein, teilt eine Sprecherin des Sozialministeriums mit, sondern müsse sich auf die Versorgung Minderjähriger konzentrieren. Sozialministerin Emilia Müller (CSU) forderte bereits im Oktober in einem internen Papier, dass junge Volljährige "grundsätzlich aus dem System der Jugendhilfe herauszunehmen sind". Die Begründung: Wenn die Jugendlichen in Deutschland ankommen, hätten sie "meist einen weiten Weg hinter sich und damit gezeigt, dass sie für sich selbst Verantwortung übernehmen und tragen können".

Ein Tag, der einen Unterschied macht

Der 1. Januar ist unter Flüchtlingen der wohl mit Abstand häufigste Geburtstag. In vielen Ländern der Welt, zum Beispiel in Syrien, aber auch in Afghanistan oder in afrikanischen Ländern, wird auf den Geburtstag eines Menschen im Allgemeinen kaum wert gelegt. Geburtstage werden nicht gefeiert und Geburten von Kindern werden oft erst Monate nach dem tatsächlichen Geburtstag registriert, teilt das Bundesinnenministerium auf Anfrage mit. Bei der Registrierung wird oft der 1. Januar des jeweiligen Geburtsjahres angegeben. In Fällen, in denen sich der Geburtstag nicht nachweisen lässt, soll in Deutschland bei Minderjährigen der für die Betroffenen günstigste Termin eingetragen werden, also der 31. Dezember. Allerdings bezweifeln viele Flüchtlingsorganisationen, dass diese Regelung auch konsequent umgesetzt wird.

Halt und Struktur

Tia Sadeg hat seine Familie im Sudan verlassen, als er 15 war. Mit Freunden machte er sich auf den Weg nach Ägypten. An der Grenze gerieten sie in ein Minenfeld, nur Sadeg überlebte. Die Bilder, sagt er, verfolgten ihn bis heute. In Ägypten arbeitete er zwei Jahre lang in einer Plastikfabrik. Weil er einmal ohne Ausweis erwischt wurde, verbrachte er einen Monat im Gefängnis. Danach beschloss er, nach Deutschland zu gehen.

Viele junge Geflüchtete hätten Dinge erlebt, die kein Jugendlicher erleben sollte, sagt der Psychologe Karl Schneller, der Sadeg bis zu dessen 18. Geburtstag betreute. Diese Erfahrungen gegen sie zu verwenden, sei "zynisch". Wichtig, insbesondere bei traumatisierten Jugendlichen, sei ein geregelter Tagesablauf, der ihnen Halt und Struktur gebe. Es gelte, die Jugendlichen vor der Vereinsamung zu bewahren. Wer den ganzen Tag in seinem Zimmer über die Vergangenheit grüble, habe schlechte Chancen, in Deutschland anzukommen. Genau mit diesem Argument versuchte er, Tia Sadeg in der betreuten Einrichtung zu halten - vergeblich.

Besonders ärgert Schneller, dass ein willkürliches Datum junge Menschen wie Tia Sadeg frühzeitig zu Einzelkämpfern mache, dass Integrationschancen vertan würden, die später kaum nachzuholen seien. Tia Sadeg möchte später als Altenpfleger arbeiten. Dazu muss er die Berufsschule schaffen und eine Ausbildung absolvieren. Wäre sein offizieller Geburtstag der 31. Dezember, bekäme er 364 Tage länger Hilfe auf diesem Weg.

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