Armutsbericht der Bundesregierung:Von der Leyen schließt die Schere

Arbeitsministerin von der Leyen nennt die umstrittenen Streichungen im Armutsbericht "Aktualisierungen" und wehrt sich gegen den Vorwurf, Rösler habe eine "Schönfärberei" durchgesetzt. Die Änderungen entzürnen nun Sozialverbände und Opposition.

Um die Verteilung von Einkommen und Vermögen zu beschreiben, wird in Deutschland oft das Bild der Schere benutzt. Doch die Beantwortung der Frage, ob sich diese Schere schließt oder weiter öffnet, ob also die Gesellschaft gleicher oder ungleicher geworden ist, ist abhängig von der Wahrnehmung.

Es ist ein bisschen, um noch einen anderen Vergleich zu bemühen, wie mit dem halb vollen oder halb leeren Glas, das den Optimisten vom Pessimisten unterscheidet. Für Sozialministerin Ursula von der Leyen ist das Glas in jedem Falle halb voll.

"Wir stehen heute im internationalen Vergleich sehr gut da", sagt sie bei der Vorlage des aktuellen Armuts- und Reichtumsberichts. Die Einkommensschere habe sich nicht weiter geöffnet, "am aktuellen Rand" des Jahres 2011 gemessen schließe sie sich.

Der 548 Seiten starke Report trägt den Titel "Lebenslagen in Deutschland" und erscheint zum vierten Mal. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • Auf die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte entfielen 53 Prozent (Stand: 2008, neuere Zahlen liegen nicht vor) des gesamten Nettovermögens. 1998 lag die Quote bei 45 Prozent.
  • Die untere Hälfte der Haushalte besaß zuletzt lediglich gut ein Prozent des Nettovermögens. 2003 waren es drei Prozent.
  • Die "Armutsgefährdungsschwelle" liegt nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes bei 952 Euro im Monat. Je nach Datengrundlage gilt dies für 14 bis 16 Prozent der Bevölkerung. Hauptgrund für Armut ist Arbeitslosigkeit. Auch für Alleinerziehende ist das Risiko hoch.
  • Von 2007 bis 2012 hat sich das Gesamtvermögen der Haushalte trotz der Finanzkrise um weitere 1,4 Billionen Euro erhöht.
  • Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor stieg und lag zuletzt zwischen 21 und 24 Prozent. Im Jahr 2010 waren 7,9 Millionen Arbeitnehmer betroffen. Die Niedriglohngrenze liegt bei 9,15 Euro pro Stunde.
  • Die Arbeitslosigkeit sank im Berichtszeitraum auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen reduzierte sich zwischen 2007 und 2012 um mehr als 40 Prozent. In der EU weist Deutschland aktuell die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit aus
  • Der Anteil der erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger an der erwerbsfähigen Gesamtbevölkerung schrumpfte von 9,7 auf 8,2 Prozent. Gab es im Jahresdurchschnitt 2007 noch etwa 5,3 Millionen Leistungsbezieher, waren es im Jahr 2012 (Januar bis September) nur etwa 4,5 Millionen.
  • Beim Bildungsniveau, das für die Chancen im Arbeitsleben mitentscheidet, gab es ebenfalls Fortschritte: Zwischen 2006 und 2010 sank die Zahl der Schüler ohne Abschluss von acht auf 6,5 Prozent.

Nicht mehr im Bericht zu finden ist die Aussage, dass 2010 mehr als vier Millionen Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter sieben Euro arbeiteten. Auch das Problem der ungleichen Vermögenssverteilung wird im Bericht nicht mehr explizit angesprochen. "Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt." Unter anderem diesen Satz ließ Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) aus dem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung streichen.

Angesprochen auf diese Streichungen sagt von der Leyen, es stehe doch alles im Bericht und sie verstehe die Kritik der Opposition nicht. Allerdings sei es an dem ein oder anderen Punkt etwas anders formuliert als in der ursprünglichen Fassung. Entfallen ist offenbar die Passage, dass das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung durch ungleiche Verteilung der Einkommen verletzt werde.

Die Veröffentlichung des Berichtes war wegen koalitionsinterner Querelen und Kompetenzstreitigkeiten zwischen Sozial- und Wirtschaftsministerium immer wieder verschoben worden. An diesem Mittwoch wurde die endgültige Fassung schließlich im Kabinett verabschiedet.

Opposition nennt den Bericht "frisiert"

Die Änderungen, die Rösler offenbar an dem Report vornehmen ließ, entzürnen nun Sozialverbände und Opposition. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Hubertus Heil, kritisierte: "Auf Druck der FDP frisiert die Merkel-Regierung den Armuts- und Reichtumsbericht. Damit verkennt sie die sozialen Realitäten in Deutschland und verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen." Die SPD-Bundestagsfraktion meldete sich über Twitter.

Schleswig-Holsteins Finanzministerin Monika Heinold (Grüne) warf Rösler Realitätsferne vor. Sie verglich den FDP-Minister dabei mit dem früheren DDR-Staatschef Erich Honecker: "Was Rösler versucht, hat schon bei Honecker nicht geklappt." "Wer ein Wunschbild von der Gesellschaft entwirft, das mit der Realität der Leute nichts zu tun hat, scheitert", sagte Heinold.

Ulrich Maurer, Bundestagsabgeordneter der Linken, forderte auf der Internetseite der Links-Fraktion die Bundesregierung auf, den Bericht zurückzuziehen. Die Fraktion wolle einen entsprechenden Antrag stellen.

Sozialverbände üben heftige Kritik

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat den Bericht heftig kritisiert: "Der Armutsbericht ist ein Armutszeugnis der Bundesregierung", sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Darin zeige sich, "dass die neoliberale Politik nach der Devise 'Sozial ist, was Arbeit schafft' gescheitert ist". Auch könnten "die Tricks und Vertuschungsversuche" der Regierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehe.

"Ich bin relativ entsetzt über die Art und Weise, wie dieser Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht wird", sagte der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, im Interview mit dem Fernsehsender Phoenix. Man müsse die Ergebnisse jetzt als Ansporn zum Handeln sehen.

Der Präsident des Sozialverband SoVD, Adolf Bauer, sagte, der Armutsbericht zeige trotz Schönfärberei, dass Niedriglöhne, prekäre Beschäftigung und der deutliche Anstieg der Armutsgefährdungsquote alarmierende Signale seien. "Die Angst vor Armut reicht in Deutschland längst bis in die Mitte der Gesellschaft. Die Bundesregierung darf die Augen vor der sozialen Realität nicht verschließen", so Bauer. Nötig sei ein überarbeiteter Armutsbericht, der den notwendigen Handlungsbedarf genau beschreibt.

Nach Ansicht von Verdi-Chef Frank Bsirske bestätigt der Bericht die unsoziale Langzeitwirkung der Politik der früheren rot-grünen Bundesregierung. Bsirske sagte der Leipziger Volkszeitung: "Was in diesem Bericht zu besichtigen ist, sind die Folgen einer umfassenden Deregulierungspolitik auf den Finanzmärkten und auf dem Arbeitsmarkt. Und das war die Politik des letzten Jahrzehnts, begonnen mit der Agenda 2010."

Als "peinliche Hofberichterstattung" kritisiert der Paritätische Wohlfahrtsverband den aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. "Dem bereits im September von Frau von der Leyen vorgelegten Bericht wurden durch den FDP-Vorsitzenden Rösler sämtliche Zähne gezogen", sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider.

Für zukünftige Berichte fordert der Verband die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission. Eine Forderung, die auch Grünen-Chef Cem Özdemir unterstützt. "Wissenschaftler sollen - so wie beim Sachverständigenrat - ein Gutachten vorlegen über Armuts- und Reichtumsverteilung in dieser Gesellschaft. Dann haben wir diesen unwürdigen Streit nicht", sagte er im ZDF-Morgenmagazin.

FDP vermutet "Wahlkampfgetöse"

Die FDP-Führung hat den Vorwurf der Schönfärberei beim Armutsbericht der Bundesregierung vehement zurückgewiesen. Parteichef Philipp Rösler bezeichnete die Kritik im Bayerischen Rundfunk als "absolutes Wahlkampfgetöse". Deutschland gehe es so gut wie nie, "wir sind Wachstumsmotor für ganz Europa und die Welt schaut auf uns", sagte er. "Ich finde, das muss man auch herausstellen, dass es uns eben gutgeht." FDP-Generalsekretär Patrick Döring sprach mit Blick auf die Vorwürfe von einem "parteitaktischen Schauspiel". Der fertige Armutsbericht zeige "auf Grundlage der Fakten, wie gut die Lage in Deutschland wirklich ist", sagte Döring der Welt.

Auch Fraktionsvize Heinrich Kolb verteidigte den Armutsbericht. Für seine Partei und den überwiegenden Teil der Bevölkerung sei nicht entscheidend, wie der Wohlstand verteilt sei, sondern welche Chancen es gebe, einen Aufstieg zu realisieren, sagte er dem RBB-Inforadio. "Das ist ja das Neue und Besondere an diesem Armuts- und Reichtumsbericht, dass wir einen ganz neuen Schwerpunkt legen, nämlich auf die soziale Mobilität, die Veränderung der Lebenslage innerhalb des eigenen Lebensverlaufs."

Der sozialpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Max Straubinger, sagte: "Deutschland ist ein reiches Land, unser Sozialstaat ist stark, den Menschen geht es gut. Alle profitieren von den Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt."

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